Stilvollendet Zug um Zug by Petra Winter | 6. März 2020 | Personalities
Eleganter kann man den Kontinent nicht bereisen: Jeder Waggon des Orient-Express aus den 1920er-Jahren ist ein historisches Meisterstück. Von März bis November verbindet das rollende Luxushotel die schönsten Städte Europas. Wir haben uns für die klassische Route Venedig–London entschieden. In Gedanken sind wir nie ganz ausgestiegen.
„Es war ein kalter Wintermorgen in Syrien. Früh um fünf wartete auf dem Bahnhof von Aleppo der Zug, der in den Kursbüchern großspurig als ,Taurus Express‘ bezeichnet wird. Er bestand aus einem Küchen- und Speisewagen, einem Schlafwagen und zwei gewöhnlichen Reisewagen.“ Stopp! Sind wir nicht im falschen Film?! Ja und nein. Wenn man das Buch „Mord im Orient-Express“ länger nicht zur Hand genommen hat, vergisst man schnell, dass Agatha Christie ihre legendäre Kriminalgeschichte nicht in Istanbul begann, sondern in Aleppo, einer Stadt, die heute, knapp 90 Jahre nachdem das Buch erschien, in Schutt und Asche liegt. Erst in Istanbul steigen ihre Protagonisten, allen voran der Privatdetektiv Hercule Poirot, in den bequemen Luxuszug, den „Orient-Express“.
Ausgangspunkt unserer Reise ist das nostalgische „Hotel Cipriani“ auf der Insel Giudecca in der Lagune Venedigs. Kurz nachdem uns ein Page in unsere Suite mit Blick auf den Markusplatz verfrachtet hat, sitzen wir an einer aufwendig gedeckten Tafel in einem der historischen Nebengebäude des Hotels. Hier treffen wir – mit einem „Signature-Bellini“ in der Hand – unsere Mitreisenden, mit denen wir am nächsten Morgen vom Bahnhof Santa Lucia nach London aufbrechen. Wie der „Venice Simplon-Orient-Express“ (so die heutige korrekte Bezeichnung) gehört das „Cipriani“ zur Belmond-Gruppe. Die wiederum hat sich vor Kurzem das französische Luxusgüter-Haus LVMH einverleibt. So viel zu den Besitzverhältnissen.
Der Barwagen ist das Herz des Zuges, das war schon so, als hier vor rund hundert Jahren die ersten Gäste bedient wurden.
Jeder der sonst so nervigen Transfers ist hier ein Vergnügen. Und so sitzen wir am nächsten Morgen im hoteleigenen Holzboot neben der Mailänder Designerin JJ Martin und diskutieren mit großer Vorfreude, was uns wohl erwarten wird. Agatha Christies Krimi und natürlich die zahlreichen filmischen Inszenierungen des Stoffs haben dazu beigetragen, dass der „Orient-Express“ zum Synonym für luxuriöses Reisen wurde. Werden die historischen Waggons, die seit etwa 100 Jahren den Kontinent durchkreuzen, die hohen Erwartungen erfüllen? Vom Reise-Vehikel der besseren Gesellschaft bis hin zum Lazarett in Kriegszeiten haben die Waggons und Kabinen so einiges erlebt. Nachdem der „Orient-Express“ nach dem Zweiten Weltkrieg einige Dekaden lang ein wenig in Vergessenheit geraten war, trat der amerikanische Unternehmer James B. Sherwood auf den Plan. 1977 ersteigerte er die ersten beiden Originalwaggons sowie nach und nach weitere, die über den Globus verstreut waren. Mit viel Geld und Liebe ließ er die Wagen restaurieren, um den Zug im Jahr 1982 wieder auf die historischen Strecken zu schicken. Von März bis Mitte November kann man zwischen unterschiedlichen Routen wählen, vom zweitägigen Klassiker Venedig–London über die neuere Strecke Paris–Berlin bis hin zur Fünf-Nächte-Tour von Paris nach Istanbul. Im Winter werden die Waggons gewartet: Das Mahagoniholz der Wände wird poliert, Perlmutt-Intarsien werden restauriert und Stoffe erneuert.
Auf dem Bahnhof in Venedig warten schon die herausgeputzten Stewards, Schaffner, die Küchencrew und der Zugchef auf uns. Unser Gepäck hat sich geräuschlos und ohne unser Zutun in die Kabine bewegt. Der Schlafwagenschaffner in blütenweißer Uniform weist uns in das etwa fünf Quadratmeter große Separee ein: rechts hinter einer Flügeltür die Waschecke, links das mit Liberty-Stoffen bezogene Sofa, das sich am Abend in ein Stockbett verwandeln wird, am Fenster das Tischchen. Kaum dass wir sitzen, bringt uns der Steward zwei gefüllte Champagnergläser mitsamt einem Döschen Kaviar.
Auf die Kleiderordnung wird im Zug streng geachtet. Sobald es dunkelt, tragen Reisende Abendkleid und Smoking.
Maximal 179 Gäste kann der Zug beherbergen, es gibt 84 Doppel- und fünf Singlekabinen sowie sechs der neuen Grand Suites. Dazu eine Pianobar, eine kleine Boutique und drei Restaurantwagen. Neugierig laufen wir einmal den kompletten Zug ab und ziehen uns dann in unsere Kabine zurück. Der Lunch, vernehmen wir per Lautsprecherdurchsage, wird für 14 Uhr festgesetzt. Wir haben also noch ein wenig Zeit, uns über die Annehmlichkeiten unserer kunstvollen Mahagoni-Höhle zu freuen und die Aussicht zu genießen. Schließlich fahren wir gerade über die Brücke, die Venedig mit dem Festland verbindet. Die Route führt uns durch die Schweiz, den Gotthard-Tunnel, über Nancy und Paris bis nach Calais, wo wir in einen Bus umsteigen werden, um durch den Eurotunnel zu kommen. Anschließend wird uns der „British Pullman“ wieder aufnehmen, an einem exklusiv für diesen britischen Luxuszug gebauten Bahnhof. Nicht nur das Interior des „Venice Simplon Orient-Express“ ist wohltuend oldschool, auch die Kleiderordnung. Der Dresscode tagsüber soll „smart elegant“ sein, am Abend ist „black tie“ erwünscht, Abendkleid und Smoking. Welch erfreuliches Bild das abgibt, sehen wir beim Lunch: schweres, gestärktes Leinen auf den Tischen, Lalique-Gläser, feines Porzellan und schweres Silberbesteck. Die ServierCrew gleitet geschmeidig zwischen den Tischen hin und her. Neben JJ Martin nimmt auch der General Manager des Zuges, Pascal Deyrolle, an unserem Tisch Platz. Während die Kellner uns mit Wein, Champagner und den herrlichsten Speisen versorgen, erzählt er ein paar Anekdoten. Etwa die vom Schlafwagen „4325“, in dem der rumänische König Carol II. 1940 zusammen mit seiner Mätresse seinen Häschern entkommen ist. Oder von Schlafwagen „3544“, der in Kriegszeiten zum Bordell umfunktioniert wurde. Wir sind neugierig, ob die Dreharbeiten für die aktuellste Verfilmung des „Mord im Orient-Express“ von und mit Kenneth Branagh, Michelle Pfeiffer, Johnny Depp und Judi Dench im Originalzug stattgefunden haben. „Die Kulisse wurde Gott sei Dank nachgebaut, das meiste mit Tricktechnik. So konnte nichts kaputtgemacht werden“, sagt Deyrolle und lacht. Nach dem Lunch gewährt uns der Chef de Cuisine einen Einblick in sein Reich. Wir staunen, auf wie wenig Raum sich die Köche tummeln, um die mehrgängigen Haute-Cuisine-Menüs vorzubereiten.
Am Abend nach dem Dinner wartet der Barwagen auf uns. Eine dreiköpfige Jazzband spielt auf. Einige Passagiere tanzen zwischen den Samt-Fauteuils. Eine Dreiergruppe schnappt sich das Mikro für eine Karaoke-Session. Unter den Gesangswütigen sind auch ein Mitglied der britischen Band „The Kooks“, Pete Denton, und seine hübsche Ehefrau Portia Freeman. Wir wünschen uns den Song „Bohemian Rhapsody“. Es ist der späten Stunde zu verdanken, dass alle laut mitsingen und die Treffgenauigkeit der Töne zweitrangig wird. Erst um drei Uhr morgens landen wir in unseren Stockbetten. In die bereitgelegten Schlafanzüge gekuschelt, schläft es sich ganz wunderbar. Irgendwann in der Nacht macht der Zug – von uns unbemerkt – in Nancy Station, und auch das leichte Ruckeln bei der Weiterfahrt nach Paris kann uns nichts anhaben. Stilvoll gebettet erreichen wir am Vormittag Paris und freuen uns auf soeben frisch an Bord gelieferten Hummer zum Brunch.