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Heilende Häuser by Martin Tschechne | 3. Dezember 2021 | Personalities

Manchmal lässt der Architekt Tomoaki Uno alle Fenster weg. Manchmal schweben die Bewohner seiner Häuser wie Vögel in der Luft. Der Maßstab des Japaners: Gesundheit, die aus Schönheit erwächst. Eine Umgebung, die Kraft spendet.

Übersetzen lässt es sich kaum, erleben ganz unmittelbar: Wabi-Sabi ist das Prinzip, nach dem der Architekt Häuser baut. Seine Vorbilder sind die Teezeremonie, Ikebana und die japanische Poesie. Sein Ziel: ein Leben im Einklang mit der Natur – ein gesundes Leben.

Der Wunsch des jungen Paares war, nun ja, ein bisschen romantisch, vielleicht gar exzentrisch, aber irgendwie auch verständlich: Sie wollten ganz für sich sein, zu zweit, mit der Welt verbunden nur durch eine gut verschließbare Tür. Und der Architekt Tomoaki Uno nahm sie beim Wort. Er baute genau das: ein Haus ohne Fenster.

„Stimmt nicht ganz!“, wirft der Baumeister aus dem japanischen Nagoya ein. „Es hat Fenster – aber die liegen auf dem Dach; nur Wolken, Sterne und die Sonne sind zu sehen.“ Ein Kompromiss, fügt er gleich hinzu. Das Bauamt habe eben seine Regeln, und fensterlose Häuser seien darin nicht vorgesehen. Ist der asketisch wirkende Herr mit Drahtbrille also bloß ein Pragmatiker? Oder doch ein Romantiker? Er übergeht die Frage. Erzählt stattdessen, was seine glücklichen Klienten ihm zuriefen, als er sie später einmal wieder traf: „Wir haben uns nie zuvor so frei gefühlt.“

„Machen Sie sich frei von der unentwegten Suche nach Bedeutung. Akzeptieren Sie den Zufall.“ TOMOAKI UNO

Keine Frage: Architektur tut etwas mit denen, die sie nutzen. Sie weckt Gefühle, Entspanntheit, Selbstvertrauen oder Besitzerstolz. Sie beruhigt oder regt an. Kann sie auch heilen, ein Leiden lindern oder sogar die Gesundheit erhalten? „Healing Architecture“, Gesundheitsarchitektur, ist ein ganzes Forschungsgebiet. Wie viele Medikamente braucht ein Patient, der den Blick ins Grüne genießt, wie viele einer, der die Rückwand des Nachbarhauses vor der Nase hat? „Wir wollten Krankenhäuser bauen, die nicht wie Krankenhäuser aussehen“, fasst die Architektin Christine Nickl-Weller, Professorin an der TU in Berlin, die Ziele eines langen Berufsweges zusammen. „Das Tageslicht sollte zurückfinden in die bedrückende Tristesse der Betonburgen.“

Seit mehr als drei Jahrzehnten ist sie gemeinsam mit ihrem Mann Hans Nickl spezialisiert auf Projekte, denen das Paar sehr entschieden einen eigenen Namen gibt:

Gesundheitsbauten. Die Resonanz in der Öffentlichkeit wächst stetig, denn es geht um viel mehr als Krankenhausflure in ansprechenden Farben, eine Begegnungszone mit Kaffeeautomaten und das Umfeld für eine Medizintechnik, die in immer rasanterem Tempo neue Wunder vollbringt und dabei immer mehr Platz und Expertise einfordert. Es geht um ein ausgewogenes Verhältnis von Effizienz und Menschlichkeit, um eine Umgebung, die Kraft spendet, Trost, wo er nötig ist, die den Geist beflügelt und einen Sinn von Geborgenheit weckt.

Tomoaki Uno ist auf solches Bauen spezialisiert. Es ist – nur scheinbar im Widerspruch zu japanischer Demut und Etikette – ein Bauen, dem die Bedürfnisse des Individuums fast kompromisslos eine Form vorgeben. So entstand etwa Takenoyama House 3 an einem Steilhang hoch über einem schmalen Tal. Ein Sockel aus Beton, der ein zartes und sehr offenes Holzhaus im felsigen Untergrund verankert und zugleich hoch hinaus hebt. Wer dort oben steht, genießt selbst beim Zähneputzen maximale Sicht auf den Himmel und die Farbenpracht des Laubwaldes. Der Herbst in der Gegend ist vor Schönheit manchmal kaum auszuhalten.

So viel davon wie möglich. Licht, Erhabenheit, Luft zum Atmen. Das Sagamine House steht am Rand eines dicht bebauten Wohngebiets, doch der Architekt stellt Wände aus Beton davor, öffnet Fronten aus Glas und lässt selbst dort das Gefühl zu, mitten in der Natur und mit ihr allein zu sein. Seinem Yomogidai House genügt die Klarheit seiner Linien, um eine fast greifbare Ruhe auszustrahlen. Vor allem dann, wenn Sonne die Luft erwärmt und das Zedernholz der Balken und Wände zu duften beginnt.

In den waldigen Hügeln über dem japanischen Inuyama liegt Haguro House wie die berühmte Hütte bei Boston, in der einst Henry David Thoreau vom Rückzug in die Wälder träumte – sein Buch „Walden“ wurde für Generationen von Lesern in der westlichen Welt zum Gegenentwurf eines atemlosen Strebens nach immer größer, immer mehr. Uno erweist dem Amerikaner seine Reverenz, denn auch Haguro House zieht sich mit jedem Jahr ein Stückchen tiefer in den Wald zurück; irgendwann wird die kupferne Außenhaut, vom Grünspan bedeckt, im Grün der Umgebung aufgehen.

Ogimachi House ist der bewusste Vorstoß des Architekten in die Heilkunst. Diesmal war es ein Sohn, der ein Haus für seine kranke Mutter bauen lassen wollte. Was sie brauchte, war Ruhe, akustisch und spirituell; also baute Uno auch hier ohne Fenster. Doch sorgte er durch 37 verglaste Öffnungen im Dach und einen raffinierten Zuschnitt der Räume dafür, dass selbst die untere Etage gro.zügig mit Licht durchflutet wird. Japanische Zimmerleute können Wunder vollbringen. Sie haben nichts als das Holz von Zeder und Zypresse verwendet und den Bau ohne auch nur einen Nagel zusammengefügt. Die Ruhe ist perfekt. Die Bewohnerin übrigens soll sich inzwischen wieder pudelwohl fühlen.

„Ich glaube an die Schönheit der einfachen Dinge“, sagt der Architekt, und vielleicht ist es wieder typisch westliches Denken, gleich nach den Details zu fragen. Wir funktioniert das, heilende Architektur? Wie lässt es sich umsetzen? Uno-san zögert. „Lassen Sie die Idee einer geplanten Harmonie hinter sich“, empfiehlt er dann. „Machen Sie sich frei von der unentwegten Suche nach Bedeutung. Akzeptieren Sie den Zufall.“

Welche Rolle der in seiner Architektur spielt? Uno legt einen Stapel Fotos vor: schrundigen Beton, wucherndes Grün zwischen Stufen aus grob behauenem Stein, Lichtschalter aus angelaufenem Messing oder Türen aus Eisen, über dessen Oberfläche sich ein Hauch von Rost gelegt hat. Kein weiteres Wort. Stattdessen spricht er von der japanischen Töpferkunst mit ihren rauen, scheinbar unbearbeiteten Oberflächen. Von den kargen Gesten des No-Theaters, der Teezeremonie und der Gedichtform des Haiku. Von Ikebana, das aus wenigen Gräsern, Blüten und Zweigen in präzise choreografierten Arrangements die Vielfalt der Natur nachempfindet. Und dann nennt er die Formel, das Prinzip, dem all diese Annäherung folgt, diese Synthese aus Neugier, dem frechen Willen zur Aneignung und respektvoller Distanz: Es ist Wabi-Sabi.

Nicht zu übersetzen. Nicht zugänglich für einen,der von westlicher Kultur geformt wurde. Demut spielt eine Rolle, Bescheidenheit, aber auch so etwas wie Freude an solcher Haltung; das ist Wabi. Sabi bezieht sich auf den Respekt vor gelebtem Leben, auf Reife, Patina und Skepsis gegenüber allzu glatter Schönheit: Sie ist vergänglich.

Der kalifornische Architekt Leonard Koren hat eine begriffliche Annäherung versucht. Herausgekommen ist ein Spiel. Es stellt die westliche Moderne und das Prinzip des Wabi-Sabi einander gegenüber, als wären sie Antagonismen. Sind sie nicht; Künstler und Architekten europäischer Tradition haben den japanischen Appell zu Einfachheit und Respekt gegenüber Material und natürlicher Form schon immer gern aufgenommen. Aber es schärft doch den Sinn für diese aus der Tradition des Zen und des Schintoismus hervorgegangene Haltung, wenn da Gegensatzpaare stehen wie „zukunftsorientiert“ und „gegenwartsbezogen“, „verklärt die Technologie“ und „verklärt die Natur“ oder „logisch-rationales Weltbild“ und „intuitives Weltbild“. Deutlich wird, dass im Wabi-Sabi Ethik und Ästhetik ineinanderfließen: Konzentriere dich auf das Eigentliche, befreie dich von allem Unnötigen, akzeptiere das Unvermeidliche.

Kann dieses Denken beim Bau eines Großklinikums helfen? In der Welt einer evidenzbasiertenApparatemedizin hat so etwas wie Zufall nichts verloren. Aber man kann nachdenken. Tomoaki Uno liefert Anstöße. „Warum Natur und Kunst uns zurRuhe bringen?“, fragt er also. „Weil sie das exakte Gegenteil zur aufgeklärten Ordnung sind. Ihre Botschaft ist nichts als Schönheit. Sie dulden und ertragen keinen Vergleich.“

IssueGG Magazine 01/22
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