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Vorhang auf für Kunst-Stoff! by Uta Abendroth | 10. August 2014 | Personalities

Made in Italy – das klingt nach Eleganz, Lässigkeit und Stil. Dieses Image hat das Unternehmen Kartell, das 1949 in Mailand gegründet wurde, miterschaffen, als die bunten Plastikartikel von Castelli & Co. Einzug in die kargen Nachkriegszeit-Haushalte hielten. Die Kunststoffrevolution der Sechzigerjahre bescherte Kartell den internationalen Durchbruch mit innovativen Möbeln, von denen heute viele als Designklassiker gelten.

Ein Stuhl mit barocker Silhouette, komplett durchsichtig. Ein Bücherregal, das sich spiralförmig aufzuwickeln scheint. Ein Sessel, der weich wie ein Marshmallow wirkt, sich beim Anfassen aber als äußerst hart und robust erweist. Es sind diese scheinbar unvereinbaren Gegensätze, die die Möbel von Kartell so reizvoll machen und alljährlich auf der Mailänder Möbelmesse für Überraschungen sorgen. Claudio Luti, seit 1988 Inhaber des Unternehmens, hat dem Kunststoff nicht nur Qualität, sondern sogar Glamour verordnet. Das entsprechende Know-how hat er in der Modebranche erworben: Zehn Jahre lang war Luti Geschäftsführer bei Gianni Versace.

„Bei Kartell verbinden wir den industriellen Kern der Objekte mit Individualität und, dank der Designer, einem Schuss Glamour.“ Claudio Luti

Angefangen hat alles mit einem simplen Skiträger: Als der Chemieingenieur Giulio Castelli 1949 seine Firma Kartell in Noviglio bei Mailand gründete, entwickelte er zunächst Zulieferteile aus Kunststoff für die Autoindustrie. Der flexible Gurt, mit dem sich Skier auf dem Fiat 500 befestigen ließen, war der Auftakt zu einer Erfolgsgeschichte mit Plastik in allen möglichen Formen und Zusammensetzungen. Ab 1953 entstanden Baby­badewannen, Eimer, Kehrschaufeln, Teppichklopfer und Thermoskannen in ungekannt knalligen Farben sowie Lampen in nie dagewesener Machart – in so ziemlich jedem italienischen Haushalt hielt mit diesen Produkten der Fortschritt Einzug. Doch der internationale Erfolg kam erst in den Sechzigerjahren und ausgerechnet mit Anna Castelli Ferrieri, der Ehefrau des Gründers: Die Architektin entwarf für Kartell eine neue Fabrik und als Art Director ein frisches Produkt-Repertoire. Ihr als Schrank, Regal, Tisch oder Hocker verwendbares System „Componibili“, das sie stets als Architektur im Kleinen bezeichnete, traf den Nerv der Pop-Ära und machte Kartell zu einem der Pro­tagonisten der Sixties. „Das Geheimnis von Kartell liegt darin“, so Claudio Luti, „dass das Unternehmen immer sehr visionär war und sich stets besonders um Innovationen im Bereich der Materialien bemüht hat, um diese ins Design oder in die Entwicklung von neuen Projekten einfließen zu lassen.“

Claudio Luti steht seit 26 Jahren an der Spitze von Kartell, er ist Kartell. Er übernahm die Firma seiner Schwiegereltern zu einem Zeitpunkt, als Kunststoff gerade mit einem massiven Imageproblem kämpfte. Aber Luti, der Betriebswirtschaft studiert und sich profundes Wissen über Produkte, Strategien, Marketing und Vertrieb als Geschäftsführer der Gianni Versace S. p. A. zu eigen gemacht hat, verleiht dem Material Plastik ein ganz neues Renommee: „Viele Kunststoffprodukte werden als Wegwerfprodukte konzipiert“, sagt Claudio Luti. „Ich habe etwas dagegen, Kunststoffe nur für den kurzen Gebrauch oder mit geringer Qualität herzustellen. Produkte von Kartell kann man mindestens zehn oder zwanzig Jahre nutzen. Und schon heute können wir in vielen davon Kunststoff-Rezyklate verwenden.“

„Kartell war das erste Unternehmen, das an die Schönheit im Kunststoff glaubte, an etwas Edles und Aristokratisches.“ Philippe Starck

Den Ruf von Plastik als Billigmaterial widerlegt der Manager von Anfang an nicht nur durch bloße Produktkosmetik oder technologische Innovationen. Er startet die Kooperation mit internationalen Top-Designern: Philippe Starck, Antonio Citterio, Alberto Meda, Vico Magistretti, Piero Lissoni, Patricia Urquiola, Ferruccio Laviani, Nendo, Rodolfo Dordoni, Ronan und Erwan Bouroullec … Schnell avancieren Objekte wie Ron Arads flexibles Regal „Bookworm“ oder  Philippe Starcks durchsichtiger Stuhl „Ghost“ zu Designikonen des 20. Jahrhunderts. Luti selbst entscheidet, mit wem er kooperiert – und das bevorzugt über einen längeren Zeitraum: „Die Produkte entstehen im Austausch zwischen Unternehmer und Designer. Ich will diejenigen, mit denen ich zusammenarbeite, oft sehen, mich mit ihnen bei einem Caffè austauschen, wissen, was sie denken. Nur so können die Entwürfe reifen und ich kann sicher sein, dass aus dem Projekt etwas wird.“

Und Projekte gibt es viele. Denn Luti, das ist klar, ist kein Typ für Stillstand. „Man darf nicht stehen bleiben“, sagt er, „sondern muss stets in die Zukunft denken. Es reicht nicht, dass wir in den letzten 26 Jahren viel Spaß hatten und Innovationen auf den Weg gebracht haben.“ Deshalb ist eins seiner großen Themen die Expansion, so, wie er es aus der Modebranche kennt. „Wir waren in Italien erfolgreich, aber ich habe erkannt, dass es wichtig ist, in New York, Tokio und sogar in Peking präsent zu sein“, erklärt Claudio Luti. „Heute reden alle von der Globalisierung. Für mich ist das schon seit zwanzig Jahren ein Thema“, fügt er hinzu. Und so ist Kartell derzeit in 126 Ländern vertreten. In eben diesem Vertriebskonzept, der weltweiten Präsenz, liegt für Kreative der besondere Reiz, für das italienische Familienunternehmen tätig zu sein. „Designer arbeiten gern mit Kartell“, weiß Luti, „weil es bedeutet, überall auf der Welt gesehen zu werden.“

Die umfangreiche Kollektion von Kartell – Möbel, Leuchten und sogar Damenschuhe aus Kunststoff – war nie aus einem Guss, sondern glänzte stets mit stilistischer Vielfalt. Neben Klassikern, die ohne Unterbrechung seit den Sechzigerjahren in Produktion sind, oder überarbeiteten Neuauflagen wie etwa Joe Colombos „Armchair“, der 1965 aus Sperrholz, heute dagegen aus Plastik gefertigt wird, finden sich ebenso kurvige wie geradlinige Möbel. „Ob barock oder minimalistisch, darüber mache ich mir keine Gedanken“, sagt Claudio Luti lächelnd. „In meinem Haus stehen ja auch Antiquitäten neben Möbeln von Kartell. Die Produkte müssen stark sein. Und schön!“ ua

IssueGG Magazine 03/15
City/CountryMilan/ Italy
PhotographyPress Images Kartell