Der Mann der Stunden by Michelle Mussler | 24. November 2017 | Offices
Im Schweizer Dorf Fleurier sitzt eine der besten Uhrenmanufakturen der Welt. Gegründet wurde sie von Michel Parmigiani, einem leisen Perfektionisten. Egal ob er neue Uhren konstruiert oder jahrhundertealte restauriert: Er kann es einfach.
Dunkelblaues Jackett, weißes Hemd, hinter der Brille ein schüchterner Blick. Das soll er sein? Der Uhrenzauberer, der bei Kennern und Sammlern tiefe Ehrfurcht auslöst? Dessen Name klingt wie der eines großen Renaissance-Malers? Gleich doppelt belebt Michel Parmigiani die Uhrmacherei wieder: zum einen unter dem Manufakturnamen Parmigiani Fleurier mit Neukonstruktionen von Armband- und Tischuhren höchster Güte. Zum anderen in seinem Spezialatelier mit musikalischen Spielautomaten und der Restauration jahrhundertealter Preziosen. Jährlich fertigt Parmigiani etwa 6.000 Armbanduhren in dem verträumten Örtchen Fleurier im Schweizer Jura. Alle Uhrwerke stellt das Unternehmen selbst her – weltweit gibt es höchstens zehn Manufakturen dieser Fertigungstiefe. Fast 500 Spezialisten üben 50 verschiedene Handwerksberufe aus, sie produzieren Gehäuse, Zifferblätter, Mikrokomponenten, Unruhspiralen. „Wir haben fünf Jahre und nahezu 100 Millionen Franken in Forschung investiert“, sagt Parmigiani.
„Solch eine wundervolle Uhr zum Leben
zu erwecken, das ist ein wenig wie Gott sein.“
Michel Parmigiani
Sein Ruf, der in Insiderkreisen Kultstatus besitzt, geht zurück auf die 1980er-Jahre. Der damals freiberufliche Uhrmachermeister schaffte zu jener Zeit, was etliche Kollegen jahrelang erfolglos versucht hatten, nämlich einer unrettbar kaputten Ikone neues Leben einzuhauchen: der 200 Jahre alten Pendel-Tischuhr „Sympathique“, einem extrem ausgeklügelten Unikat. „Es war die größte Herausforderung, und ich war wie im Rausch. Solch eine wundervolle Uhr zum Leben zu erwecken, das ist ein wenig wie Gott sein“, sagt er. Seither kann sich der zierliche Schweizer mit italienischen Wurzeln kaum vor Anfragen retten.
Zu seinen Stammkunden gehörten Museen wie das Les Arts Décoratifs in Paris, die Eremitage in St. Petersburg, das Uhrenmuseum Patek Philippe in Genf. Ebenso Privatsammler und Auktionshäuser. Schon vor fast 30 Jahren klopfte auch Pierre Landolt bei ihm an. Der Präsident der milliardenschweren Sandoz-Familienstiftung, die Anteile am Pharmagiganten Novartis hält, hat ein schweres Erbe – Hunderte mechanischer Automaten und historischer Großuhren, die gepflegt werden wollen. Nur Parmigiani schien der geeignete Uhrmachermeister zu sein und sagte zu. Über die Jahre entstand zwischen beiden Herren tiefes Vertrauen. Eines Tages sagte Landolt einen Satz, der alles veränderte: „Wenn du bereit bist, unterstützen wir dich.“ Und tatsächlich, die Sandoz-Familienstiftung gründete 1996 zusammen mit der Uhrmacher-Koryphäe als Präsident die Manufaktur Parmigiani Fleurier und erwarb Tochterfirmen dazu. Inzwischen versorgt man sogar andere namhafte Marken. Darunter Richard Mille, Corum und wohl Patek Philippe sowie Hermès, die 25 Prozent Anteile halten. Manchmal erfindet Parmigiani auch besonders knifflige Kreationen für Breguet, Vacheron Constantin und Piaget. Über andere reden möchte der 67-Jährige jedoch nicht. Diskretion und Bescheidenheit sind ihm wichtig, was ihn umso geheimnisvoller macht. Mysteriös wirkt auch seine jüngste Kreation, bei der er die Zeit auf den Kopf stellt. In der „PF-Bugatti 390 Concept Watch“, die durch eine Kooperation mit der Automarke entstand, treibt ein zylindrisches Uhrwerk über eine Achse oberhalb des Zifferblatts die Zeit voran. „Das ist keine Uhr, das ist ein Motorblock, bei dem man von der Seite die Zeit abliest“, sagt Parmigiani. Soll heißen, die gewagte Handaufzugskonstruktion, in der ein Planetengetriebe statt eines üblichen Räderwerks die Kraft überträgt, passt zum neuen W16-Motor des Bugatti. Zudem ist ein fliegendes Minutentourbillon integriert, das mit vier Hertz besonders flott schwingt. Und damit die Uhr bei Vollgas nicht zu schnell schlapp macht, ist sie wie der Bugatti mit zwei Tanks alias Federhäusern ausgestattet.
Wem solche Extravaganzen für etwa 200.000 Euro nicht genügen, kann sich ein individuelles Modell fertigen lassen. Nur wahre Manufakturen vermögen solche Einzelstücke zu fertigen, die Sammler und Uhrenfans aus der ganzen Welt bei Parmigiani bestellen. „Das kann schon über ein Jahr dauern. Etwa zehn Uhrmacher arbeiten an so einem Unikat, wenn es, wie kürzlich bestellt, ein eigenes Zifferblatt, Gehäuse und verschiedene Komplikationen haben soll.“ Schnell ist da eine Million Euro erreicht. Parmigiani wird jedoch auch der bezahlbaren Liga gerecht: Bei knapp 9.000 Euro geht es mit der puristischen Drei-Zeiger-Uhr „Tonda 1950“ los. In einer anderen Klasse zeigt sich seine Vorliebe für historische Vorlagen wie die der griechischen Architektur – die elegante „Toric Chronomètre“ besitzt eine geriffelte Lünette, die einer Dorischen Säulenanordnung gleicht. Als raffiniertes Ausnahmeobjekt entpuppt sich die „Ovale Pantographe“: Hier bewegen sich die Zeiger nicht nur im Kreis, sondern verlängern und verkürzen sich passend zur ovalen Gehäuseform. Parmigianis größte Leidenschaft gilt jedoch fantasievollen Großuhren. Die einen sehen darin ein Mobiliar mit Zusatzfunktion, die anderen begeistern sich für die ausgeklügelte Technik. Nicht nur in Privaträumen, auch in Vorstandsetagen stehen diese Automaten mit Zeitangabe. Ihr sanftes Ticken wirkt meist beruhigend und „oft steckt dahinter das Bedürfnis, dem hektischen Alltag unseres digitalen Zeitalters etwas Anachronistisches entgegenzusetzen“, sagt er.
Jüngster Geniestreich dieser Art ist der „Automat Hippologia“: eine 55 Kilo schwere Tischuhr aus goldenem Lalique-Glas, champagnerfarbenen Diamanten und massivem Gold, auf der eine Stute und ihr Fohlen im Oval galoppieren. 2.200 Einzelteile arbeiten für zwei Mechanismen, die einerseits das Pferde-Spektakel, andererseits die Uhrzeit vorantreiben. Der Preis: 2,4 Millionen Euro. Parmigiani ist von solchen Summen unbeeindruckt. „Mir geht es um die Liebe zur Uhrmacherei. Darum, ein Kulturgut zu erhalten.“