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Abgründe des Alltags by Steffi Kammerer | 2. März 2018 | Personalities

Mit seinen Mitmach-Skulpturen hat er die Bildhauerei neu interpretiert: Österreichs bekanntester lebender Künstler Erwin Wurm – im letzten Jahr vertrat er sein Land auf der Biennale in Venedig. Er ist ein Meister des Skurrilen und Paradoxen. Einer, der die Überflussgesellschaft und unsere Gegenwart mit beißend-boshaftem Augenzwinkern kommentiert. Sein Durchbruch kam 1997 mit den „One Minute Sculptures“. Seither waren Wurms Wahnwitz-Werke in vielen Hundert Ausstellungen auf der ganzen Welt zu sehen.

Fettleibige Autos und Häuser, die aus allen Nähten platzen, Büromenschen, denen Spargel aus der Nase wächst, Museumsbesucher, die sich in Skulpturen in misslicher Lage verwandeln. Bildhauer Erwin Wurm hat einen scharfen Blick, vor seinem hintergründigen Humor ist nichts und niemand sicher. Seine Werke entstehen auf einem Anwesen in der Nähe von Wien. Hier lebt der Künstler mit seiner Familie in einem alten Haus, das er aufwendig restauriert hat. Nebenan hohe Hallen, in denen er arbeitet, unterstützt von einem halben Dutzend Handwerkern. Auf fünf Hektar Land ist zudem reichlich Platz für unzählige Wurm-Skulpturen, Obstbäume und grasende Schafe.

„Die Fragen, das ist täglich Brot. Die Zweifel, das Hin und Her bis zum Fertigwerden.“ Erwin Wurm

Herr Wurm, wie kommen Sie auf Ihre Einfälle? Wenn man das viele Jahre macht, weiß man, wie es funktioniert, dass die Ideen kommen. Ich versuch mich mit Begriffen wie dem Absurden und dem Paradoxen der Wirklichkeit zu nähern. Aus dieser Perspektive erkennt man schnell, wie verrückt unsere Welt ist. Daher muss ich mich nicht in einen besonderen Zustand begeben, nicht saufen, keine Drogen nehmen, nicht meditieren. Sondern wenn ich mich konzentriere und darüber nachdenke, wie ich die Arbeit weiterentwickle, dann passiert so etwas wie Brainstorming. Dann arbeite ich mich da hinein und dann kommt es irgendwann. Oder auch nicht … (lacht) Je mehr man arbeitet, desto mehr Inspiration hat man. Die meisten Materialien kommen aus meinem Umfeld. Die Wurst. Die Essiggurke. Damit bin ich aufgewachsen.

Nehmen wir das „Narrow House“, Ihr gequetschtes Elternhaus — 110 Zentimeter breit, wie kam das zustande? Das ist ein längerer Prozess. Da war zuerst mal dieser Frust, ich krieg nur diesen schmalen Raum (in einer Ausstellung in Peking im Jahr 2010, Anm. d. Red.). Zuerst wollte ich absagen, aber dann dachte ich: Thematisiere, dass man dich beengt. Und das löst so Ketten aus. Welches Haus kann ich von innen darstellen? Und dann kam ich irgendwann zu meinem Elternhaus. Es ist das einzige Haus, das ich wirklich gut kenne. Ich hab außerdem immer wieder über meine Eltern, über meinen Vater gearbeitet. Das Haus wurde in den 60er-Jahren gebaut, da war die Gesellschaft immer noch restriktiv. Mein Vater war Kriminalbeamter, in der Schule wurden wir noch geschlagen, das spielte alles mit hinein. Ich wollte das enge Haus eng machen. Nicht abstrakt, sondern mit Fotos und Vorhängen und Tapeten aus der Zeit.

Arbeiten Sie an mehreren Projekten gleichzeitig? Ja, an vielen. Dann kommt der Transport in eine Ausstellung und es ist alles leer. Den Zustand der Leere mag ich nicht, also geht’s weiter. Und so wird eigentlich immer gearbeitet. Nur nicht im tiefen Winter.

Gibt es Themen, bei denen Sie mit der Skulptur an Grenzen kommen? Weil Sie nicht schnell genug sein können? Ich reagiere nicht so direkt. Ich hab es ein paarmal versucht. Aber letzten Endes sehe ich mich nicht als politischen Künstler. Ich möchte es auch nicht. Weil es mir die Arbeiten beschmutzt. Aber klar geht es mir um Gesellschaftsthemen: das Auflösen von Wahrheiten und fixen Standards. Das Bargeld wird irgendwann verschwinden, wir geben unsere Freiheiten auf, werden immer durchsichtiger. Alle schauen zu, alle finden es normal, da stimmt doch etwas nicht. Unsere Zeit ist ja eine Zeit der Unsicherheit. Wir verlieren die letzten Bestimmtheiten. Die Aufklärung, eines der größten Verdienste Europas, verschwimmt durch nachwachsende patriarchale Strukturen. Das ist alles Thema. Ich stelle Fragen an die Gesellschaft. Und ich liefere Kunstwerke, die Fragen stellen, die sich behaupten in diesem Wahnsinn an Welt. Die auch in gewisser Weise Wahnsinn sind.

Wollen Sie provozieren? Nein. Mich interessiert das starke Bild. Ich glaube an diese Bilder, die sich einprägen. Ich habe jetzt auch für eine Ausstellung Wortskulpturen entworfen. Da lade ich Leute ein, auf ein Podest zu gehen und einen oder mehre Sätze zu sagen. Zum Beispiel: „Fußballgroßer Tonklumpen auf hellblauem Autodach.“ Dann hört man den Satz, sieht das, und das ist die Skulptur. Das gefällt mir. Das ist ein Bild, das ich in die Köpfe pflanze, wie bei einer Operation. Nur ausgesprochen und zack, hat man es im Kopf. Ich versuche auch immer, mich abzusetzen von Künstlern, die mit Pathos gearbeitet haben. Pathos macht die Menschen klein. Weil es einschüchtert. Ich glaube eher an das Marginale, Beiläufige, verzweifelt Machende. Das Lächerliche. Das, was unsere Existenz am Ende ausmacht im Verhältnis zur Gesamtheit der Menschheit und der Geschichte. Da sind wir ja wirkliche Würstel. Das ist eine Diskrepanz, mit der wir leben müssen. Und das interessiert mich – nicht, was der Donald Trump jetzt wieder für einen Nonsens gesagt hat oder die Angela Merkel. Das möchte ich nicht kommentieren. Mich interessiert das absurde Theater sehr. Darum ist meine Arbeit so angelegt. Humor ist nur ein Teil des Paradoxen. Humor hat auch mit Befreiung zu tun.

Hilft Humor in Krisen? Wenn es einem wirklich an den Kragen geht, dann hilft einem das Lachen auch nicht. Aber zumindest hilft das Bewusstsein, dass alles relativ ist.

Das heißt, Sie sehen die Komik auch in Ihrem Alltag? Oh ja, ich sehe das. Ich sehe mich oft als lächerlich, ich sehe es auch bei anderen. Da kann ich schon auch drüber lachen. Nicht, was die tragischen Elemente betrifft und die letzten großen Themen, Leben und Tod und Verlust. Aber was einen täglich begleitet, die kleine Hinlänglichkeit, die ja immer breiteren Raum einnimmt – je älter man wird, desto bescheuerter wird man.

Beim Künstler-Ranking von ArtFacts.Net sind sie heute auf Platz neun der lebenden Künstler. Was bedeutet Ihnen das? Ich nehme es nicht ganz ernst, aber es freut mich auch.

Sie sind die letzte Instanz – wissen Sie immer, wann ein Kunstwerk fertig ist? Am Anfang wusste ich oft nicht, muss ich noch weiterarbeiten? Oder ist es dann überarbeitet? Mittlerweile hab ich das kapiert. Das ist Erfahrung und Gefühl. Ich bin mit der großartigen Schriftstellerin Fritzi Mayröcker befreundet. Da kann man auch fragen, ist das Gedicht jetzt fertig oder nicht? Wahrscheinlich nicht, aber das spielt auch keine Rolle – sie hat sich dafür entschieden. Und wenn sich der Autor dazu entscheidet, dann ist es fertig. Und bei den Künstlern ist es genauso, da gibt es diese wunderbaren Bilder von Picasso und vielen anderen, bei denen man das Gefühl hat, die sind noch nicht fertig, aber das genau macht die Qualität auch aus. Und ich hab oft Dinge lieber, wenn sie unfertig ausschauen. Aber zum Beispiel bei den „Fat Cars“, da wollte ich das Bild eines Autos erzeugen, das dick ist, eins zu eins, das musste also wirklich fertig sein, perfekt.

„Ich stelle Fragen an die Gesellschaft. Und ich liefere Kunstwerke, die Fragen stellen. Die auch Wahnsinn sind.“ Erwin Wurm

Ganz technisch: Wer hilft Ihnen, damit bei so etwas die Dimensionen stimmen? Ich war zuerst bei General Motors in Rüsselsheim eingeladen, die hatten riesige 3-D-Computer, da konnte ich mit Technikern drei Tage lang herumexperimentieren. Aber damals, im Jahr 2000, waren die Computer nicht fähig, anthropomorphe, also menschenähnliche Formen aus einer Blechkiste zu machen. Also haben wir es selbst getan. Das „Fat Car“ ist ein richtiger Porsche, da haben wir Styropor draufgeklebt und dann geschabt, gespachtelt, geraspelt, geschliffen. Am Ende ist es lackiert worden. Das alles hat vier Monate gedauert. Ich war anfangs immer dabei, Formentscheidungen kamen nur von mir, ich hab händisch mitgearbeitet und jeden Tag kontrolliert. Das geht gar nicht anders. Wenn man die Kontrolle abgibt, wird es zwar auch was, aber nicht das, was man will.

Wenn Sie so lange an einem dicken Auto feilen, denken Sie zwischendurch: Was tu ich hier? Hab ich mich total verrannt? Ich mach ja auch anderes parallel. Aber klar, die Fragen, das ist täglich Brot, die Zweifel, das Hin und Her bis zum Fertigwerden. Ich kenne immer wieder solche Momente. Ich weiß noch, als ich die One Minute Sculptures zum ersten Mal gemacht habe, 1997 in Bremen. Da hatte ich große Zweifel. Ob das gut ist? Ich wusste es nicht. Dann war der Katalog schnell ausverkauft, Leute haben gesagt: Weißt du, dass man das in England und in Amerika interessant findet? Das kam super überraschend.

Verwerfen Sie Arbeiten auf halber Strecke? Ja, ich hab schon viel weggeworfen. Das ist wichtig. Zum Beispiel das erste „Fat House“. Dafür wollte ich modernistische Architektur als Ausgangspunkt nehmen, die „Villa Müller“ von Adolf Loos, ein stufiges Haus mit Flachdach. Das Modell war fertig, aber als ich es dann in Originalgröße dick machte, sah ich plötzlich: Das sieht aus wie eine Hüpfburg. Man konnte es nur wegwerfen.

Was ist eine Reaktion auf Ihre Kunst, die Ihnen gefällt? Nicht „Ach, ist das lustig“, das geht mir auf die Nerven. Weil das eine Verkürzung ist. Ansonsten kümmere ich mich wenig um den Rezipienten. Mich interessiert die Arbeit. Und mich interessiert, was Kollegen sagen und ein paar wenige, die ich mir ausgesucht habe.

Woher nehmen Sie Ihr Selbstbewusstsein? Als junger Student habe ich alles angeschaut und alles gelesen. Ich hab dann immer zu den Meistern und Meisterinnen der Literatur und der Philosophie und der Kunst aufgeschaut, konnte aber den Zusammenhang nicht herstellen, die waren da oben und ich da unten. Und dann ist mir etwas geglückt, als es mir wegen persönlicher Ereignisse nicht mehr wichtig war.

Sie meinen den Tod Ihrer Eltern und die Scheidung von Ihrer ersten Frau? Ja. Da habe ich eineinhalb Jahre gar nicht gearbeitet. Danach war mir alles relativ wurscht. Dann kam ich mit den One Minute Sculptures raus. Da hatte ich nicht mehr nur diesen Willen, jetzt „gute Kunst“ zu machen, sondern das war losgelöst. Man sieht das oft bei Leuten: Weil sie so gute Beispiele aus der Kunst kennen, können sie sich nicht befreien. Die stellen sich immer hinten an. Die können nie eine eigene Welt auf die Beine stellen. Man redet sich ja dann raus auf den Erfolg nach dem Tod. So wollte ich nicht enden.

Was wäre denn die Alternative gewesen? Ich hab mir schon als Student gedacht, wenn ich nicht relativ schnell von meinen Arbeiten leben kann, höre ich auf. Vielleicht wäre ich Galerist geworden, keine Ahnung. Aber sicher hätte es etwas mit Kunst zu tun gehabt, das ist so lebensbereichernd. Aber man muss es nicht unbedingt selbst machen.

Viele Künstler leiden. Ich leide auch an meiner Kunst. Aber man leidet an der Tatsache, dass man etwas ganz Tolles machen möchte und es gelingt nicht. Schauen Sie den Alex Katz an, der hat etwas hingestellt, das ihm keiner nachmacht. Daran leidet man, wenn einem das nicht gelingt.

Jetzt sind Sie weltberühmt. Haben Sie manchmal Angst, dass der Erfolg irgendwann ausbleibt? Ich mache das schon so lange, 40 Jahre, ich sehe da nicht schwarz, nein. Aber es gibt immer Angst, schlechte Kunst zu machen, täglich. Das ist ein Dauerkampf. Aber ich hab mittlerweile so viel Bestätigung bekommen, dass ich so eine gewisse Grundsicherheit habe. Die Arbeiten sind in allen großen Museen, da brauche ich mich nicht mehr zu fürchten, die verschwinden dort nicht mehr. Aber gelingt mir noch mal so was Gutes wie ein „Fat Car“? Gelingt mir noch mal so etwas wie die One Minute Sculptures?

Ihr Nachname, Wurm. Wie war das als Kind? Das war eine Vorgabe.

Sind sie gehänselt worden? Na klar. Ich habe meinen Söhnen angeboten, wir machen eine Namensänderung. Aber die wollten bei ihrem Namen bleiben.

IssueGG Magazine 02/18
City/CountryVienna/ Austria
PhotographyMark Seelen
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