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Das Künstlerdorf by Martin Tschechne | 6. September 2019 | Personalities

Nur eine halbe Autostunde entfernt von Nizza liegt in den Bergen das Dörfchen Saint- Paul-de-Vence. Einst Schaffensstätte einiger der größten Expressionisten, lockt es heute Kunstliebhaber und Sammler. Der zauberhafte Ort an der Côte d’Azur feierte jüngst seine erste eigene Biennale. Ein Besuch in der legendären „Fondation Maeght“ und dem Hotelrestaurant „La Colombe d’Or“, wo Picasso, Chagall und auch Matisse ein- und ausgingen.

Henri Matisse kam mit einer Limousine, ein Chauffeur fuhr ihn vor. Und weil der berühmte Künstler in die Jahre gekommen war und die Knie ihm zu schaffen machten, brachte der Wirt den Tee eben hinaus ins Auto und setzte sich dazu. Sie versanken in ein Gespräch wie alte Freunde; als Paul Roux wieder ausstieg, waren sie es wohl wirklich. Der Rest ist Legende, wie so vieles hier.

Das Hotel „La Colombe d’Or“ – die „Goldene Taube“ – im Dorf Saint- Paul-de-Vence in den Bergen hoch über Nizza ist einer dieser Orte, auf denen immer das Licht eines schläfrigen Sommernachmittags zu liegen scheint. 1931 eröffneten Roux und seine Frau ihre Herberge. Und alle, so schrieben sie es über die Eingangstür, seien willkommen: ob sie zu Pferd reisten, zu Fuß oder in der Kunst. Sie alle, nun sie kommen bis heute. Zwei Millionen Touristen zieht es jedes Jahr ins Dorf mit seinen mehr als 30 Galerien. Eins will man hier nicht: in der großen Vergangenheit erstarren. Saint-Paul-de-Vence entschied sich deshalb, eine Biennale für zeitgenössische Kunst zu veranstalten, im letzten Sommer war Premiere. Scharen schoben sich durch die malerischen Gassen, vorbei an Skulpturen von David Nash, Jan Fabre und Antony Gormley.

Die fröhliche Betriebsamkeit des Mittags ist verklungen, die Tische im „La Colombe d’Or“ sind neu gedeckt, weiße Tischtücher aufgelegt. Durch das dichte Dach aus Orangen- und Zitronenbäumen dringen Sonnenstrahlen und zeichnen Muster aus Licht und Schatten. Bald ist es Zeit für einen Pastis, bevor die Gäste zum Diner eintreffen. Hat wirklich Roger Moore hier seinen Filmpartner Tony Curtis in den Pool geworfen? Ist die schöne Anouk Aimée mit einem Liebhaber angereist und hat das Haus mit einem anderen wieder verlassen? Und haben die berühmtesten Künstler ihre Zeche mit Gemälden beglichen? François Roux, der Enkel des Gründers, steckt voller Geschichten, aber bei den Bildern winkt er freundlich lächelnd ab: „Nein, sie alle wussten, was ihre Arbeiten wert sind. Und was ein Essen kostet.“

„Hier sollen Musiker, Poeten und Maler zusammenkommen.“ AIMÉ MAEGHT

Manchmal sind Mythos und Wirklichkeit eben zu einem Tuch verwoben, das nach all den Jahren nicht mehr zu entwirren ist. Ein Glück! Tatsache ist, dass schon die Impressionisten des späten 19. Jahrhunderts vom weichen, gleißenden Licht im Hinterland der Côte d’Azur fasziniert waren. Viele folgten ihnen. Denn in den verwinkelten Gassen des uralten, auf einer Hügelkuppe gelegenen Dorfs herrschte noch lange eine stille Gelassenheit, als läge der Rest der Welt in einem anderen Zeitsystem und Paris auf einem fremden Stern. Und Tatsache ist schließlich, dass sie hier einen Wirt hatten, der das alles mit glühender Inbrunst liebte. Und so kamen sie, einer im Schlepptau des anderen: Paul Signac und Raoul Dufy, Georges Braque und Fernand Léger, Amedeo Modigliani, Joan Miró und Marc Chagall. Eines Tages stand Picasso in der Tür.

Sie kamen, um sich am Zauber des Ortes zu berauschen, zu feiern, zu lieben und zu arbeiten. Und viele ließen etwas da: ein Gemälde, eine Skulptur, ein Mosaik. Miró ein leise tanzendes Mobile, César Baldaccini einen riesigen, hoch aufgereckten Daumen, Matisse ein duftiges Frauenporträt. Léger bleibt gegenwärtig mit einer Komposition aus glasierten Kacheln, gerahmt von grünen Blättern, Picasso mit einem Blumenstrauß. Und vor wenigen Jahren installierte der irische Maler Sean Scully ein streng abstraktes Wandrelief gleich neben dem Pool. Das Haus wurde eine Schatzkammer der modernen Kunst quer durch ein halbes Jahrhundert und darüber hinaus – und blieb doch, was es immer gewesen war: eine Auberge und ein ländliches Restaurant, ein üppig wuchernder Garten, provenzalische Gastlichkeit. Schon früh musste Paul Roux anbauen. Er tat es mit den Steinen einer verfallenen Kapelle, die er vorsorglich beiseitegelegt hatte. Alles sieht aus, als wäre es nie anders gewesen. Gekalkte Gewölbe, ein rustikal gekachelter Boden. Später, als sein Sohn den Betrieb übernommen hatte, fing Roux selbst an zu malen, unter Anleitung von Matisse und Picasso und gar nicht schlecht. Aber vielleicht liegt gerade im feinen Gefühl für den Ort und dessen Geist eine ganz eigene Kunst.

Auch der Galerist Aimé Maeght muss die Kraft dieses Ortes gespürt haben, die Aura aus Lebensfreude, freiem Geist und Freundschaft. Er gründete hier oben ein privates Museum, zu Fuß liegt es gut eine Viertelstunde vom Hotel entfernt. Zur Kunst gefunden hatte der gelernte Lithograf als Betreiber eines Möbelgeschäfts in Cannes. Mit ihr reich geworden war er nach dem Krieg in Paris. Dann starb Bernard, sein Sohn, elf Jahre alt. Mit seiner Frau Marguerite suchte Maeght die Nähe der Künstler und ihren Trost. Und so eröffneten sie im Juli 1964 auf dem Hügel La Colline des Gardettes die „Fondation Maeght“. Landschaftsgarten, Skulpturenpark, Ausstellungshaus und weltberühmte Kunstsammlung mit rund 15.000 Werken. Einen Treffpunkt wolle er schaffen, so der Stifter: „Es ist ein Haus, in dem Musiker, Poeten und Maler zusammenkommen und gemeinsam arbeiten.“ Zur Eröffnung sang Ella Fitzgerald.

„Und alle sind willkommen.“ PAUL ROUX

Joan Miró hatte versprochen, zur Not Steine zu bemalen, um den Galeristen aus seiner Trauer zu befreien – er gewann seinen Freund und Landsmann, den katalanischen Architekten Josep Lluís Sert für das Projekt. Gemeinsam gestalteten sie das Labyrinth aus Garten und Terrassen um die Gebäude, die Sert aus Backstein und weißem und beigefarbenem Beton flach in die Landschaft fügte. Braque steuerte ein Wasserbassin aus farbigem Mosaik bei, Miró seine organisch-abstrakten Formen, Pol Bury eine kinetische Brunnenskulptur. Der Schweizer Alberto Giacometti fand im Garten Platz für 52 seiner reduzierten Figuren, sein Bruder Diego stattete das Café mit gusseisernen Möbeln aus. Das Sammlerpaar brachte Werke von Pierre Bonnard und Wassily Kandinsky, von Chagall, Calder, Léger und Antoni Tàpies. Und alles gehörte genau hierher. Als wäre es immer da gewesen. Die Fondation in ihrem stillen Pinienhain ist das Gedächtnis, ein Ort der Besinnung für gut 200.000 Besucher im Jahr.

Es wird Abend. Im „La Colombe d’Or“ wird neu aufgedeckt. Romy Schneider und Alain Delon haben hier geturtelt, Yves Montand hat Simone Signoret gesehen und war vom Donner gerührt: die Liebe seines Lebens. Jean Paul Sartre war da und Simone de Beauvoir, Charlie Chaplin und Orson Welles, die Callas, die Bardot, stets barfuß, und die Loren. Hier in der „Goldenen Taube“ wird das Leben gefeiert, als ein Geschenk aus Licht und Leichtigkeit. Der Schriftsteller Raymond Queneau setzte sich zur Arbeit an den Tisch, an dem schon André Gide seine Texte verfasst hatte. Liza Minnelli warf ihren Verehrern Luftküsse zu. Einmal kam ein Amerikaner, um dem Wirt sein Lokal abzukaufen. Paul Roux bedankte sich mit einem Blumenbouquet und einem Billett: „Die Blumen für Sie, die Colombe für meinen Sohn.“

IssueGG Magazine 04/19
City/CountrySaint-Paul-de-Vence / France
PhotographyProsper Assouline
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