Kengo Kuma by Martin Tschechne | 4. September 2020 | Personalities
Statt Beton setzt er ganz auf warme Materialien und die traditionelle japanische Bauweise. Der einflussreiche Architekt Kengo Kuma sucht den Einklang mit der Natur. So hat er auch das Nationalstadion in Tokio gebaut – in weiten Teilen besteht es aus Holz. Im nächsten Jahr sollen hier die Olympischen Spiele stattfinden.
„Wir suchen eine neue Art von Glück.“ KENGO KUMA
Wie kein anderer Architekt vertritt Kengo Kuma die ästhetischen Traditionen seines Landes in der Welt. Er baut nachhaltig und ressourcenschonend. Im Gespräch erklärt er, wie die Katastrophe von Fukushima das Denken seiner Landsleute völlig verändert hat. Und warum der jahrtausendealte japanische Lebensstil ein Modell für das 21. Jahrhundert sein kann.
„Ich habe mich noch viel entschiedener als früher dem Werkstoff Holz zugewandt.“ KENGO KUMA
Kuma-san, vor fast 30 Jahren haben Sie ein Autohaus in Tokio gebaut, bei dem Sie offensichtlich viel Spaß hatten. Sie haben den russischen Konstruktivismus zitiert, mittelalterliche Mauern hochgezogen und das Ganze mit einer riesigen ionischen Säule gekrönt. Heute verwenden Sie Reispapier und Bambus, Glas, Plastik – und haben für die Olympischen Spiele 2021 ein Stadion aus Holz entworfen. Was ist inzwischen passiert?
Hmm. Wir sind 30 Jahre älter geworden. Und womöglich auch ein bisschen klüger.
Konkret?
Als ich mit der Architektur begonnen habe, in den 1980er Jahren, wollte ich vor allem den damals vorherrschenden Modernismus kritisieren. In meinen Augen hatte er sich totgelaufen. Deshalb habe ich mich zu einer Art Postmodernismus bekannt – und dafür stand eben unter anderem dieses inszenierte Chaos mit der griechischen Säule im Zentrum. Aber die Idee verlor rasch ihren Reiz.
Was war geschehen?
Auf Dauer war die Postmoderne den Leuten zu akademisch. Sie können nicht über Jahre denselben Witz erzählen. Die 1990er-Jahre waren dann schwierig für mich. Ich bekam kaum noch Aufträge in Tokio, musste raus aus der Stadt und mir kleinere Projekte suchen. Für mein Selbstverständnis als Architekt war das ein Wendepunkt.
Wird in der Provinz anders gebaut?
Oh ja! Zumindest war das damals in Japan so. In Tokio hatte ich immer mit großen Baufirmen zusammengearbeitet. Große Projekte – da war alles organisiert, jeder hatte seinen Bereich. Meine Gesprächspartner waren die Manager. Mit den Handwerkern hatte ich so gut wie nichts zu tun.
Und auf dem Land?
Da war ich in ganz anderer Weise zuständig. Ich habe mit den Handwerkern geredet, habe ihnen zugeschaut – und dabei eine Menge gelernt.
Was genau? Techniken? Oder so etwas wie eine Lebensauffassung, eine Art, die Welt zu sehen?
Eigentlich beides. Vor allem habe ich gelernt, den Wert handwerklicher Arbeit zu erkennen und zu schätzen, die Sorgfalt im Detail, die Klugheit der Lösungen. Das waren wirklich gute und intensive Gespräche. Wissen Sie: Wir haben fantastische Handwerker in Japan, und sie haben eine jahrtausendealte Tradition im Rücken.
Und so kehrten Sie dann zurück in die Stadt.
So war es. Ich hatte in unseren Gesprächen ja mehr als nur die Techniken der Handwerker kennengelernt. Mir waren Werte wie Nachhaltigkeit bewusst geworden, Bescheidenheit, eine besondere Form der Ökonomie. Nennen Sie es Sparsamkeit. Oder sogar Demut.
Sie haben in New York studiert, unterhalten ein zweites Büro in Paris, entwickeln Wohnkonzepte für Moskau und ein Bürgerzentrum für Sydney. Sie bauen in Peking und Lausanne, in Arnheim und São Paulo, Aix-en-Provence und Vancouver. Vor zwei Jahren wurde Ihre Dependance des Londoner V&A-Museums im schottischen Dundee eingeweiht – und trotzdem bezeichnen Sie sich als den vielleicht japanischsten Architekten der Gegenwart. Wie passt das zusammen?
Ich denke, dass sich auch in Europa oder Amerika ein System von Werten entwickelt, dem der traditionell japanische Lebensstil sehr entgegenkommt. Er ist einfach, nimmt Rücksicht auf andere Menschen und achtet stärker auf die Nachhaltigkeit unserer Entscheidungen. Ich denke, er könnte ein Modell für das 21. Jahrhundert sein.
In einer Ihrer Betrachtungen zur Architektur schrieben Sie, dass sich die Bedürfnisse schon geändert haben: Die Leute wollen keine Monumentalbauten mehr, nichts, was sich aus der Nachbarschaft heraushebt.
Ja, ich glaube, das Gefühl von Ästhetik hat sich gewandelt. Besonders nach dem Erdbeben von 2011 haben die Menschen hier eine andere Mentalität. Sie suchen ihr Glück an anderen Orten, und ich glaube, sie suchen auch eine andere Art von Glück. Es gibt so etwas wie eine neue Spiritualität. Japan besinnt sich auf seine eigene Tradition. Diese Katastrophe hat die Menschen hier fundamental verändert.
Sie meinen besonders auch die verheerenden Folgen für das Kernkraftwerk Fukushima?
Das Land ist gewissermaßen zur Besinnung gekommen. Ich selbst habe vorher versucht, mit meinen Projekten so etwas wie Inseln zu schaffen, Inseln der Einfachheit oder der Ruhe – aber die Heimsuchungen von 2011 haben das ganze Land ergriffen.
Von außen betrachtet teilt sich das kaum mit. Wir sehen immer noch, wie großzügig und sorglos hier mit Energie umgegangen wird. Auch die Atomreaktoren wurden wieder ans Netz geschaltet. Was also hat sich geändert?
Unser Premierminister Shinzo Abe kann vielleicht nicht die gesamte Politik neu definieren. Aber ich denke, die meisten Politiker sagen, wir sollten unsere Energiepolitik grundlegend ändern.
Was bedeuteten der Tsunami und die Katastrophe von Fukushima für die Architektur? Sie selbst haben mal beschrieben, dass vor allem die Architektur nach westlichem, amerikanischem Vorbild durch das Erdbeben zerstört worden ist.
Ich glaube, der große Wandel nach der Katastrophe lässt sich so zusammenfassen: Findet neue Wege! Nämlich eure eigenen! Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Japan darum gekämpft, zum Westen aufzuschließen. Das ganze Land war von diesem Drang erfasst. Wir waren besiegt worden, also haben wir in Kultur und Wirtschaft versucht, den Amerikanern nachzueifern. Die Hinwendung zur Kernenergie war da nur ein Aspekt – wir haben praktisch das ganze System übernommen.
Und das Erdbeben war so etwas wie ein himmlisches Zeichen …
Es war ein sehr deutliches Warnsignal.
Aber Japan war immer schon den Gewalten der Natur ausgesetzt. Die Menschen haben auch gelernt, sich darauf einzustellen.
Das stimmt. Unser Respekt vor den Mächten der Natur zeigte sich schon darin, dass japanische Häuser in früheren Zeiten mit einem Sicherheitsabstand zum Meer gebaut wurden. Vorzugsweise ein Stück weiter oben am Hang, wo ein Tsunami sie nicht fortreißen konnte. Das galt vielleicht nicht für Tokio, weil wir hier durch die Bucht geschützt sind. Aber weiter oben im Norden war das ganz sicher so. Man wusste: Alle 60 oder 80 Jahre rollte so eine Riesenwelle auf das Land zu und riss alles mit sich. Also hielt man Abstand. Das war klug. Leider haben wir diese Lektionen im 20. Jahrhundert außer Acht gelassen. Es war einladend, am Wasser zu leben, also haben wir dort Häuser gebaut, Einkaufszentren, Industrieanlagen, sogar Atomkraftwerke. Heute wissen wir: Das war ein epochaler Fehler!
„Die Idee ist, eine Architektur der skulpturalen Objekte zu überwinden.“ KENGO KUMA
Was bedeuteten die jüngsten Katastrophen für Ihre eigene Arbeit?
Vor dem Tsunami hatte ich so ein Gefühl: Wir sollten ein post-amerikanisches, post-modernistisches System entwickeln. Es war nur eine Intuition, ein leichtes Unbehagen mit dem Verlauf der Entwicklung. Aber jetzt bin ich fest davon überzeugt: Das ist die Richtung, in die wir gehen sollten.
„Ich denke, der traditionelle japanische Lebensstil könnte ein Modell für das 21. Jahrhundert sein.“ KENGO KUMA
Bezogen auf die Architektur?
Ich habe mich noch viel entschiedener als früher dem Werkstoff Holz zugewandt. Das entspricht nicht nur meiner eigenen Überzeugung, mich haben auch meine Klienten dazu gedrängt. Ihre ganze Mentalität hatte sich geändert – und damit auch ihr Verständnis von Ästhetik. Blättern Sie nur mal in japanischen Architekturmagazinen: Wo es vorher kaum etwas anderes gab als grauen Beton, sehen Sie heute immer häufiger die sanften, warmen Farben von Holz.
Das heißt?
Die Menschen sehnen sich nach natürlichen Materialien. Ich selbst habe mich immer zu Holz hingezogen gefühlt: Die Farben, das Licht, die handwerkliche Verarbeitung und der Geruch erinnerten mich an meine Kindheit. Aber jetzt sind es viele Architekten, die so denken. Die Menschen wollen einfach wieder mit Holz leben. Es ist ein sehr zeitgemäßes, zukunftstaugliches Material für den Bau von Wohnhäusern. Es ist nachhaltig wie kaum ein anderer Baustoff. Es duftet, schafft ein angenehmes Raumklima, es hat eine Dimension, die dem Menschen entspricht. Dank moderner Technologie ist sogar Feuergefahr kein Thema mehr. Wir sollten es wiederentdecken.
Trotzdem gibt in der modernen Architektur Japans Beton immer noch den Ton an: In Ihrer Heimatstadt Tokio ist der Stil eines Tadao Ando an jeder Straßenecke zu entdecken: strenge, glatt geschliffene Oberf lächen in einem sehr eleganten Grau.
Stimmt, Beton war das Ausdrucksmittel des 20. Jahrhunderts, denken Sie an den Brutalismus. Aber heute finden wir bessere Lösungen. Schauen Sie sich mal das Kultur- und Tourismuszentrum in Asakusa an: Dort haben wir die Strukturen der traditionellen Holzhäuser aus der Nachbarschaft zu einem Turm übereinandergestapelt – das ist natürlich ein Statement. Oder werfen Sie einen Blick auf das Stadion für die Olympischen Spiele 2021 in Tokio.
Sie haben es entworfen: aus Holz. Und aus den Außenwänden wuchern grüne Pflanzen. Wie haben Sie es geschafft, ein solches Konzept durchzusetzen?
Nun, es gab zwei Wettbewerbe. Den ersten gewann die Londoner Architektin Zaha Hadid, die 2016 gestorben ist. Tadao Ando war Vorsitzender der Jury, ich hatte mich an der Ausschreibung gar nicht erst beteiligt, weil ich wusste, dass seine und meine Ansichten sehr weit auseinanderlagen.
Wie kam es zu einem zweiten Wettbewerb?
Die Regierung, unser Premierminister Shinzo Abe, hat die Reißleine gezogen, nachdem sich die Kosten für das Stadion verdoppelt hatten. Es kam noch hinzu, dass ein paar sehr einflussreiche Architekten zum Protest gegen den Plan von Zaha Hadid aufgerufen hatten, Fumihiko Maki etwa oder Toyo Ito. Und fast 90.000 Menschen schlossen sich mit ihrer Unterschrift an.
Welchen Fehler hat Zaha Hadid in Ihren Augen gemacht?
Vielleicht hat sie den Ort nicht richtig eingeschätzt. Sie wollte ein herausragendes Gebäude errichten, ein Monument. Das war ihre große, großartige Fähigkeit. Sie konnte Bauwerke entwerfen, die sich aus ihrer Umgebung heraushoben. Im Fall des Olympiastadions aber ging es um einen sehr sensiblen Ort. Der Bauplatz liegt im Meiji-Jingu Gaien-Park mit der berühmten Gemäldegalerie des Meiji Kaisers – da sollte die Architektur nicht auftrumpfen, sondern so etwas wie Respekt gegenüber der Umgebung zeigen.
Sie haben Ihre Position auch theoretisch begründet. Schon vor zehn Jahren schrieben Sie Essays, in denen Sie Kollegen und Auftraggeber zum Umdenken auffordern: „Anti Object“, eine Architektur, die sich als Dienstleistung versteht – sehr modern. Hat die Zeit Ihnen recht gegeben?
Es sieht so aus. Die Idee ist, eine Architektur der skulpturalen Objekte zu überwinden. Im 20. Jahrhundert war es ja das Ziel vieler Architekten, isolierte Monumente zu errichten, die sich möglichst deutlich von ihrer Umgebung abhoben. Solches Denken entspricht nicht mehr den Anforderungen unserer Zeit. Wir nehmen unsere Umgebung bewusster wahr, wir leben in ihr, nicht mehr gegen sie. „Anti-Object“ ist meine Bezeichnung für genau diese Haltung.
„Im 20. Jahrhundert war es das Ziel vieler Architekten, isoliertem Monumente zu errichten.“ KENGO KUMA
Im Fall des Olympiastadions scheint ja irgendjemand auch die Regierung davon überzeugt zu haben. Es gab also eine neue Jury, dann einen zweiten Wettbewerb, Sie gingen als Sieger hervor, Ende 2016 begann der Bau. Als Vorbild für Ihre sehr bewusst japanische Haltung zitieren Sie charmanterweise einen Deutschen, nämlich den Architekten Bruno Taut. Welche Rolle spielt er für Sie?
Er bestätigte durch seine Sicht von außen das, was ich in meiner Kindheit in Japan erlebt und empfunden, aber noch nicht konzeptuell verarbeitet hatte. Taut kam im Jahr 1933 nach Japan und fühlte sich durch unsere Lebensweise sehr angesprochen. Und es waren nicht die Bauten der Moderne, die ihn begeisterten – ihn zog es in die entgegengesetzte Richtung. Er sah also die traditionelle Bauweise unseres Landes und sagte sich: Das ist es, was auf den Modernismus folgen wird! Er hat seine Gedanken niedergeschrieben, etwa über die kaiserliche Katsura-Villa in Kyoto oder den Ise Schrein. Und ich habe das alles verschlungen.
Was haben Sie von ihm gelernt?
In erster Linie die Erkenntnis, dass unsere Architekturtradition schon die Antworten für eine nachindustrielle Zeit bereithält. Taut hatte lange nach solchen Modellen gesucht. In Japan hat er sie gefunden.
Sind Sie also ein Traditionalist?
Nein, unsere Bautradition hat mich inspiriert, so wie meine persönliche Erfahrung auch. Aber was ich entwerfe, ist ganz eindeutig zeitgenössische Architektur. Sehen Sie sich das Haus „Water Glass“ an; ich habe es 1995 gebaut: Es geht aus von einer japanischen Sehnsucht nach Natur, formuliert aber eine sehr moderne Antwort darauf. Für mich war es übrigens eine besondere Freude, dieses Haus in Shizuoka zu bauen. In unmittelbarer Nachbarschaft steht die Villa Hyuga, das einzige Bauwerk von Bruno Taut in Japan.
Mal abgesehen von diesem Bedürfnis nach Nähe zur Natur: Die Bevölkerung der Erde wächst und wächst – müssen wir uns wohl in 20 oder 30 Jahren damit abfinden, dass wir alle in riesigen Wohnmaschinen untergebracht werden?Außerdem wandelt sich unsere Lebensweise rapide: Die Menschen wechseln den Wohnort genauso wie ihre Beziehungen, sie kommunizieren im Internet – wie soll Architektur da auch nur annähernd Schritt halten?
Architekten können sehr viel dafür tun, einen neuen Lebensstil zu fördern. Ich selbst arbeite zum Beispiel an Konzepten für geteilten Wohn- oder Büroraum.
Sprechen wir da über das Fertighaus, das Sie für Muji entworfen haben: praktisch, schnell aufgebaut und schnell auch zu recyceln, wenn seine Zeit abgelaufen ist?
Nun ja – inzwischen ist mir klar, dass auch das Muji-Haus ein typisches Einzelhaus für die Vorstadt ist. Es ist gedacht als ein Vorschlag, aber viele Probleme bleiben offen. Ich denke, in Zukunft werden wir Häuser brauchen, in denen wir Wohnraum teilen und flexibel arbeiten können.
Und was wäre ein Modell für die Zukunft?
Mein Sohn Taichi Kuma hat eines bewohnt. Er ist 35 und auch Architekt. Es ist ein kleines Apartment – aber zugleich ein Wohnmodell für die Zukunft: Er hat Freunde eingeladen, sie lebten dort zu siebt. Jeder hat ein Zimmer für sich, daneben gibt es Räume, um gemeinsam zu essen und zu arbeiten.
Die klassische Wohngemeinschaft! Hat er es selbst entworfen?
Nein, das war vor ein paar Jahren, er studierte noch. Meine Frau, Satoko Shinohara, hat es mit ihrem Studio Spatial Design Tokio entworfen. „Share Yaraicho“ ist das erste Haus seiner Art in Tokio: gebaut aus Kunststoff und Holz, und statt Türen gibt es Reißverschlüsse, die die Eingänge verschließen. Es wurde 2014 von der Architektenvereinigung AIJ ausgezeichnet. Für mich war es das Modell für eine Zeit, in der mehr als jeder Zweite in unserer Stadt allein lebt und die Preise für Wohnraum durch die Decke gehen.
Es gibt ein Zitat von Ihrem Kollegen Tadao Ando. Er sagte:„Kuma lebt in einer komplett neuen Zeit.“ Hätten Sie solch ein Kompliment von ihm erwartet?
Ich habe mich sehr darüber gefreut. Ich habe Ando-san zwar immer wieder sehr entschieden kritisiert, gleichzeitig aber schätze und respektiere ich ihn sehr. Deshalb hat mich diese Bestätigung durch ihn wirklich berührt.