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Calm App by Jutta von Campenhausen | 4. Dezember 2020 | Personalities

Roter Teppich vor einem Kino am Londoner Leicester Square, Fernsehmoderatoren in Abendgarderobe, Premierenpublikum an der Absperrung und die Schauspieler auf allen vieren. Es sind Schafe. Der Start des langweiligsten Films der Welt war ein perfekter PR-Gag.

­Michael Acton Smith und Alex Tew, Gründer der Meditations-App Calm, hatten „Baa Baa Land“ als Einschlaffilm produziert. Acht Stunden grasende Schafe in Zeitlupe – kein Text, keine Handlung – und die Medien stürzten sich auf das abstruse Spektakel mit der ernsten Botschaft. „Schlafstörungen sind eine Volkskrankheit. Dieser Film könnte die Kur sein“, sagte Michael Acton Smith in die Kameras. „In Zeiten von Informationsflut, gehetzten Tagen und ruhelosen Nächten ist es großartig innezuhalten und auf Schafe zu starren, denn Schlaf ist der Schlüssel zu mentaler Fitness.“

Tatsächlich bietet die Onlineplattform Calm weit mehr als langweilige Filme. Herzstück des Unternehmens sind geführte Meditationen. Jeden Tag lädt die Plattform eine neue „Daily Calm“ hoch, eine Meditation, die Anfängern wie Routiniers hilft, sich zehn
Minuten zu besinnen. Dazu bietet Calm Atemübungen, beruhigende Musik und Einschlafgeschichten. Mehr als eine halbe Million Fünf-Sterne-Rezensionen im App-Store und bei Google Play hat die App bis heute eingefahren. 2017 wurde Calm die iPhone-App des Jahres.

Als die beiden Briten Tew und Acton Smith 2012 das Unternehmen gründeten, hatten sie auf die harte Tour gelernt, den richtigen Nerv zu treffen. Nach einem halben Jahr als Investmentbanker startete Acton Smith einen Onlinehandel und das Computerspiel Moshi Monsters, das ihn reich machte – bis vier Jahre später die Zahlen dramatisch schrumpften. „Es war eine unheimliche Zeit. Ich musste Hunderte Leute entlassen, verlor das Geld, das Freunde und Familie investiert hatten, hatte Dauerkopfschmerzen und war so nah am Burn-out, wie man nur sein kann“, erzählte Acton Smith mal vor Studenten.

„Warum versuchst du es nicht mit Medi­tation?“, fragte sein damaliger Mitbewohner Alex Tew, der seit Teenagertagen meditiert. „Warum versuchst du nicht, mich in Ruhe zu lassen?“, sagte Acton Smith und fuhr erstmals seit Jahren in die Ferien – mit einem Stapel Bücher über Achtsamkeit und Meditation. Er las über neurowissenschaftliche Erkenntnisse, Konzentration, Resilienz und Glück. Da dämmerte ihm, dass Meditieren mehr ist als weltentrücktes Träumen. Bald überlegten die beiden Londoner WG-Genossen, wie sie eine Meditations-App erfolgreich machen könnten.

Auch Alex Tew, heute 36, hatte damals bereits einige Höhen und Tiefen des Internet-­Unternehmertums durchlebt. Bereits 2005 hatte er eine Website gebaut, die durch Meditationen führte – doch für Kapitalgeber war die Idee uninteressant. Dabei hatte Tew, um sich sein Studium zu finanzieren, die „Million Dollar Homepage“ erfunden: eine leere Website mit einer Million Pixel, die er innerhalb von vier Monaten für je einen Dollar verkaufte. Damit wurde der Jungmillionär eine Internetberühmtheit – vorübergehend. Ein Spin-off namens Pixelotto scheiterte, auch sein Buchprojekt „One Million People“ war kein Erfolg.

Und dann kam Calm. „Wir liebten die Idee, und wir liebten den Namen“, erinnerte sich Acton Smith einmal, „aber wir wussten nicht, wie wir Meditation aus der Eso-Ecke bekommen.“ Andererseits beobachteten er und Tew, wie sich etwa pflanzenbasierte Ernährung – früher als Öko-Spinnerei belächelt – zum Multi-Millionen-Markt mauserte. Sie erkannten, dass seelische Gesundheit immer mehr zum Thema wurde.

Schließlich definierten die beiden Briten den Markt für ihr Unternehmen als „mentale Fitness“ neu und beschlossen, „Nike für das Bewusstsein“ zu werden. Sie zogen ins Silicon Valley und entließen Calm 2012 in die freie Wildbahn. Dafür hatten sie 1,5 Millionen Dollar von Business Angels gesammelt, die sich auf mehrere Runden verteilten. Damit hatten sie knappes Kapital für die Entwicklung der App, aber nichts für Werbung. Meditationsplattformen erschienen damals weder neu noch interessant und standen im Ruf, verhuscht und esoterisch zu sein.

„In Zeiten von Informationsflut, gehetzter Tage und ruheloser Nächte ist es an der Zeit innezuhalten, durchzuatmen und die Gedanken zu beruhigen.“ MICHAEL ACTON SMITH

Drei Jahre später lag der Jahresumsatz von Calm bei 2,3 Millionen, und die App war profitabel. Bis 2016 wirtschafteten die beiden Briten solide, aber unspektakulär. Dann fiel ihnen auf, dass die meisten Nutzer die App am späten Abend aufriefen. Sie erfanden die „Sleep Stories“ – Einschlafgeschichten für Erwachsene, gelesen von prominenten Stimmen und atemberaubend langweilig. 2017 katapultierten die Schlafgeschichten Calm auf 22 Millionen Dollar Umsatz. Im Jahr darauf bekam das Unternehmen 27 Millionen in einer Series-A-Finanzierung. Mit weiteren 88 Millionen aus der Series B wurde Calm das erste Unicorn für mentale Gesundheit, eine Firma also, die mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet wird.

Heute dozieren die beiden Unternehmer regelmäßig vor Studenten über die Firmengründung. Da geht es um große Träume, Mut zur Lücke und harte Arbeit. „Done is better than perfect“, sagt der 46-jährige Acton Smith. Und: „Es ist wie beim Surfen. Man muss da sein, bevor die Welle bricht.“ Schließlich wurde die Welle gewaltig. Heute gibt es über 1.300 Meditations-Apps, darunter zwei Platzhirsche: Calm und Headspace. 30 Millionen Mal wurde die Calm-App heruntergeladen, und täglich kommen weltweit 75.000 neue Nutzer hinzu.

„Das Bewusstsein ist ein Muskel. Lasst ihn uns flexen!“Calm-Anleitung zum Programm „Mental Fitness“

Das Geheimnis langfristigen Erfolgs ist es aber nicht, Kunden zu gewinnen, sondern sie dauerhaft zu binden. Längst gibt es Meditationszyklen für Fortgeschrittene, sogenannte Meisterklassen. Calm thematisiert gesunde Ernährung und Selbstbewusstsein, Ängste, Stress und Kommunikationsthemen,
Beziehungsfragen und Krisenmanagement. Es lohnt sich, in der App und auf der Internetseite herumzusurfen. Kostenlose Onlinezeitschriften und ein Achtsamkeitskalender, Blogs und wissenschaftliche Hintergründe, sogar eine umfangreiche Kinderecke gehören mittlerweile zum Programm.

Dabei propagiert Calm – ganz im Sinne der „Time well spent“-Bewegung –, das Handy und den Computer gezielt liegen zu lassen. Die App sendet keine Pushnachrichten und funktioniert am besten als reine Audioquelle. Der Bildschirm zeigt nur einen ruhigen See vor schneebedeckten Bergen und blauem Himmel. Die Zeitschriften zur Meditation, Schlaf und Veränderung soll man herunterladen und an einem ruhigen Ort auf Papier lesen. Für die, die mehr möchten, gibt es bereits zwei „Calm“-Bücher („Gelassen werden und die Welt verändern“ und „Die Magie des Schlafes“). Vielleicht könnte Calm von einem virtuellen bald zu einem realen Ort werden. „Michael denkt über ein Resort nach“, erzählt Alex Tew. „Er möchte eine ruhige Insel kaufen.“

Issue1/21
City/Country
Photography-