Wasser Architektur by Silke Bender | 4. Juni 2021 | Personalities
Landflächen werden immer kostbarer und rarer. Daher planen visionäre Architekten jetzt schon für ein Leben auf dem Wasser. Sie entwickeln schwimmende Studentenwohnheime und Hotels, Golfplätze, Theater und ganze Städte.
Die Meeresspiegel steigen, Fluten und Erosion bedrohen zunehmend die Bewohner in Küstenregionen. Höchste Zeit, das Wasser als neuen Baugrund zu begreifen, meinen führende Architekten.
„Ich sehe mich nicht als Architekten, sondern als Stadt-Doktor – und Wasser ist meine Medizin.“ KOEN OLTHUIS, WATERSTUDIO
Dass Koen Olthuis in Den Haag einer der Vordenker für Architektur auf dem Wasser geworden ist, hat einen nassen Grund: „Ich sage zum Scherz immer: Wir sind ein Fake-Land. Die Hälfte Hollands liegt eigentlich unter dem Meeresspiegel. Wir haben unser Land den Fluten abgetrotzt. All unsere Stadtplanung ist geprägt vom Kampf gegen das Wasser.“ Also dachte sich der Architekt, Jahrgang 1971: „Warum hören wir nicht damit auf und betrachten Wasser vielmehr als neuen Baugrund?“
Schon jetzt ist die Erde zu mehr als zwei Dritteln mit Wasser bedeckt, viele der größten Städte der Welt liegen am Meer. Steigt der Meeresspiegel wegen der Klimaerwärmung weiter, wird der Platz auf dem Land noch enger. Prognosen besagen, bis 2050 werde die Weltbevölkerung auf etwa 9,7 Milliarden Menschen anschwellen, etwa 70 Prozent davon werden in Großstädten leben.
Bisher sind die meisten Bemühungen um mehr Baugrund in Landgewinnungsprojekte geflossen: Da ist die Odaiba-Insel in Tokio und Südkoreas Smart City Songdo. Dann das gigantische neue Kulturviertel West Kowloon, das in Hongkong entstand, mit Oper, Kunstmuseum und Konzertsälen – und nicht zuletzt die Palm Islands in Dubai. Solch extreme Eingriffe in die Natur sind meist ökologische Katastrophen – sowohl auf dem Land, wo der benötigte Sand geraubt wird, als auch unter Wasser, wohin er gebracht wird.
„Wir müssen umdenken: Grün ist gut, aber Blau ist besser“, sagt Olthuis, väterlicherseits Enkel eines Architekten, mütterlicherseits eines Schiffbauers. Er denkt die Synthese: Lieber schwimmend als statisch bauen. „Ich betrachte mich eigentlich nicht als Architekten“, sagt er. „Vielmehr als Stadt-Doktor – und Wasser ist meine Medizin.“ Seit er 2003 sein Architekturbüro Waterstudio gründete, haben er und sein Team bis zu 300 schwimmende Häuser und Büros gebaut – die meisten davon in den Niederlanden. Die BBC gab ihm den passenden Namen: „Der Schwimmende Holländer“. Sein Team plant auch schwimmende Villen, Dörfer und Golfplätze auf den Malediven und ganze Stadtviertel in Holland.
Viele seiner visionären Ideen kamen bisher kaum über die Entwurfsphase hinaus, aber das ändert sich gerade: Arkup ist eine Mischung aus Yacht und Haus, eine Nullemission-Luxusvilla, die mit Solarenergie betrieben wird und über ein eigenes Abfallmanagement, Regenwassersammlung und Wasserreinigungssysteme verfügt. Sie soll sogar Hurrikans und Fluten standhalten, indem sie sich flexibel heben und senken kann. Arkup wurde gerade für 5,5 Millionen Dollar verkauft, wesentlich günstiger als die meisten großen Yachten. Der erste von ihm erdachte Sea Tree – ein schwimmender Wohnturm nur für Tiere, der die Biodiversität und die Wasserqualität in großen Städten verbessern soll – wird noch diesen Sommer im chinesischen Kunming fertiggestellt. Und der Parthenon – eine Art schwimmender, durchlässiger Deich, der Wellenkraft in Elektrizität umwandelt – wird bald an Norwegens Küste eingesetzt.
Olthuis plant nicht nur für die Happy Few dieser Erde: Auch für die wachsenden Elendsviertel in sogenannten Wetslums, wie man sie in den Küstenstädten von Afrika oder Asien findet, könnten schwimmende Häuser eine Lösung sein. Seine sogenannten Floating City Apps, containerartige Flöße, können bei Bedarf Infrastruktur bereitstellen. Egal ob Wohnraum gebraucht wird oder Abwasseraufbereitung, ob mobile Schulen fehlen, mehr Strom oder Platz für den Anbau von Lebensmitteln. Sechs dieser Flöße gibt es bereits – sie dienen in Corona-Zeiten als Kommunikationstreffs für die Besatzung von Containerschiffen.
Das erste Wort, das der kleine Sohn des Architekten Bjarke Ingels und seiner spanischen Frau Rut Otero, gesagt haben soll, war „agua“, Wasser. Der Däne gehört mit seinem Büro BIG (Bjarke Ingels Group) zu den Big Five der Branche. Er baut gerade nicht nur am neuen Google-Headquarter im Silicon Valley, sondern Museen und Kulturzentren von Bordeaux bis Mexiko, Bankentürme in Frankfurt und eine ökologische Müllverbrennungsanlage in Dänemark. Vor Kurzem ist er in sein neues Zuhause im Hafen von Kopenhagen eingezogen: einem stillgelegten, rund 38 Meter langen Fährschiff. Wo immer man aus den Bullaugen und Fenstern schaut, sieht man auf Wasser.
Das Schiff ist für Ingels eine private Gelegenheit, im Kleinen zu praktizieren, was er im Großen predigt. „Schwimmende Häuser sind die widerstandsfähigste Architektur“, sagte er in der amerikanischen AD. „Wenn der Meeresspiegel steigt, werden es die Hausboote auch tun.“ Er ankert nun in unmittelbarer Nachbarschaft zum ebenfalls von ihm entwickelten Projekt Urban Rigger: standardisierte, schwimmende Container, die als günstige Studentenwohnungen in Kopenhagen dienen.
Seine Vision für Oceanix City, die er 2019 der UN-Habitat als Lösungsmodell für zukünftige Stadtplanung vorschlug, denkt noch größer. Es versteht sich als eine buchstäblich schwimmende Stadt und sieht nachhaltige, modulare Strukturen für bis zu 10.000 Menschen vor – eine Art Blaupause für eine erste maritime Metropole. Die Module sind so konzipiert, dass sie mit der Zeit wachsen und sich verschieben, von Nachbarschaften über Dörfer bis hin zu Städten reifen können.
Oceanix City könnte vor der Küste größerer Städte liegen, aber im Falle einer Katastrophe an einen anderen Ort geschleppt werden. Als zusätzliches Sicherheitselement wären alle Module so ausgelegt, dass sie Überschwemmungen, Tsunamis und selbst Hurrikans der Kategorie 5 standhalten. Oceanix City ist als Nullemission-Stadt gedacht: Sie würde mit sauberer Wellen- und Sonnenenergie betrieben. Frischwasserversorgung ist geplant über modernste Wasserdampfdestillationstechnologie, atmosphärische Wassergeneratoren und Regenauffangsysteme. Geschlossene Verwertungskreisläufe sollen für null Wasserverschwendung und null Abfall sorgen.
Dort, wo die Polkappen schmelzen und für den Anstieg des Meeresspiegels sorgen, am Polarkreis in Norwegen, soll noch in diesem Jahr das Svart Hotel von Snøhetta eröffnen. Es stellt sich selbst vor als das welterste Hotel, das mehr Energie produzieren als verbrauchen will. Wie ein Rettungsring auf Holzpfählen ragt es am Fuße des namensgebenden, dunkelblauen Svartisen-Gletschers in den Fjord und ist nur per Boot zu erreichen. Diese 360-Grad-Konstruktion auf Wasser wurde gewählt, um die Sonnenenergie mittels Kollektoren auf dem Dach optimal aufzufangen, zu jeder Saison und jeder Tageszeit – und natürlich auch, um Hotelgästen einen Rundumblick auf Gletscher und das Spektakel der Polarlichter zu ermöglichen. Das Ziel von Svart Hotel ist ein völlig netzunabhängiger, autarker Betrieb innerhalb von fünf Jahren nach der Eröffnung: Mit eigenen Gewächshäusern und einem energieneutralen Bootsshuttle von und zur nächstgelegenen Stadt Bodø.
„Der Louvre Abu Dhabi ist eine der besten Arbeiten, die ich bisher realisieren durfte.“ JEAN NOUVEL
Im Wüstenstaat Abu Dhabi, reich an Öl und Sonne und arm an Sü.- und Regenwasser, gilt das kostbare Nass als Himmelsgeschenk. So ist Wasser das beherrschende Architekturthema des Prestigebaus Louvre Abu Dhabi, den Jean Nouvel 2017 vollendete. Der Bau, den Nouvel selbst als einen seiner besten bezeichnet, entfaltet durch sein raffiniertes Spiel mit Licht, Schatten und Wasser eine beeindruckend spirituelle Kraft. Blickfang des am Ufer des Golfs nur scheinbar auf dem Wasser schwebenden Gebäudes ist die flache Kuppel von 180 Metern Durchmesser: Die mehrschichtige, netzartige Konstruktion, die an arabische Mosaike erinnert, besteht aus 8.000 Metallsternen.
Wenn das Sonnenlicht durch die Kuppel fällt und an den Wänden und auf den Wasserflächen reflektiert, erzeugt das einen permanenten optischen Lichtregen. Könnte das Gebäude tatsächlich schwimmen, wäre es noch besser, meint Koen Olthuis. Weil es als mobiles Museum Kunst und Kultur im Sinne einer Sharing Economy an andere Ufer tragen könnte. Kann sein, dass es bald am Golf so weit ist: Katar hat ihn bereits um einen Entwurf für ein Floating Museum gebeten. Erst einmal baut Waterstudio eine Nummer kleiner: 2022 soll L’île O, ein schwimmendes Theater, im französischen Lyon eröffnen.