Vertical Farming by Silke Bender | 4. März 2022 | Personalities
Mit Gemüsebeeten, die die Wände hochkrabbeln, in die Zukunft. Internationale Investoren setzen auf Vertical Farming – die Pandemie hat die boomende Branche beflügelt. Die clevere Idee: Grünes wächst auf den Dächern der Stadt und da, wo es verkauft wird – in Supermärkten und Restaurants.
Zuerst kommen die Erdbeeren. Auf dem Dach des Pariser Messegeländes an der Porte de Versailles strömen unter dem noch grauen Himmel dieser Tage die Gärtner aus, um die ersten Setzlinge in hohen weißen Pfeilern zu fixieren, die aussehen wie Wirbelsäulen. Die in Frankreich entwickelten Pflanzsäulen funktionieren mit der Aeroponik-Technik, bei der Wurzeln in der Luft hängen und ständig mit einer Nährstofflösung besprüht werden. Sie kommen ohne Pestizide und mit nur zehn Prozent des üblichen Wasserverbrauchs aus. „Noch sieht es ein bisschen trist aus“, sagt Sophie Hardy. „Doch spätestens im Mai ist das hier eine üppig grüne Oase.“ Hardy ist die Direktorin der Nature Urbaine, der größten urbanen Rooftop- Farm Europas. Auf einer Fläche von etwa zwei Fußballfeldern sollen in Zukunft bis zu drei Tonnen Obst und Gemüse pro Jahr geerntet werden, die dann direkt an die Stadtbewohner, Supermärkte, das angrenzende Novotel, Kantinen oder Restaurants wie das „Le Perchoir“ geliefert werden, das sich das Dach mit der Farm teilt. 156 Parzellen werden je für ein Jahr an Privatpersonen vermietet: Diese „Schrebergärten 2.0“ gehen jede Saison weg wie warme Semmeln.
„Kein Mensch kommt ja auf die Idee, seine Bibliothek auf dem Boden zu verteilen.“ DR. NATE STOREY, CO-GR NDER UND CHIEF SCIENCE OFFICER VON PLENTY, KALIFORNIEN
Die Pandemie mit ihren unterbrochenen Lieferketten und teils leeren Regalen einerseits und die Klimadebatte andererseits haben den Boden bereitet für Ideen, die vor zehn Jahren noch belächelt wurden. „Unsere Idee, den Bauernhof in die Stadt zu bringen, frische und gesunde Lebensmittel mit kurzen Lieferketten anzubieten und einen Beitrag zu mehr Klimaneutralität und Biodiversität zu leisten, leuchtet plötzlich jedem ein“, sagt Sophie Hardy.
Von der Bauernhof-in-der-Stadt-Idylle ist das Konzept des Berliner Unternehmens Infarm weit entfernt. Bei ihnen wächst das Grün in futuristischen Glaskästen, in denen LED-Leuchtst be rotieren. Als 2017 die ersten dieser Art im Vertical-farm-to-table- Restaurant „Good Bank“ in Berlin-Mitte auftauchten, hielten es Passanten für eine Kunstinstallation. Heute leuchten die spacigen Brutkästen in immer mehr Supermärkten. Sogar bei Aldi Süd, Metro, Rewe oder Edeka kann man sie finden und die dort wachsenden Kräuter und Salate samt Wurzeln nach Hause tragen. Mehr als 1.400 solcher mobilen, vertikalen Farmen betreibt Infarm mittlerweile in elf Ländern: Das Berliner Unternehmen ist mit rund 1.000 Mitarbeitern und weiteren Standorten in den USA, den Niederlanden, Frankreich und Japan zu einem der führenden Akteure im Vertical-Farming-Markt geworden. Konkrete Geschäftszahlen lässt sich das Unternehmen nicht entlocken, verrät nur, dass allein die Pandemie den Umsatz um über 200 Prozent wachsen lie . In zwei Finanzierungsrunden konnte Infarm zwischen 2020 und 2021 allein 270 Millionen Dollar Investorengelder einsammeln.
Vom umgebauten Wohnwagen in Kreuzberg, in dem die israelischen Gründer Guy Galonska, sein Bruder Erez und dessen Lebensgefährtin Osnat Michaeli 2013 die ersten Experimente machten, ist die hypermoderne Growing Farm in Spandau Lichtjahre entfernt. In der ehemaligen Waschmaschinenfabrik befindet sich eine der 15 Produktionsstätten, in der die verschiedenen Parameter der sogenannten Growing Recipes entwickelt, getestet und datengesteuert optimiert werden. Nach der Ernte werden Nährstoffwerte, Ertrag und Geschmack ausgewertet, um so die optimale Kombination der Variablen zu ermitteln. Erst danach werden die Pflanzen in den Glaskästen als autarke Farming Units in die Supermärkte geliefert.
Vertical Farming scheint das Zeug zu haben, den Biotrend in der Lebensmittelindustrie abzulösen. Laut einer aktuellen US-Studie blüht dem neuen Markt, der 2021 bereits auf global 4,3 Milliarden Dollar beziffert wurde, ein Wachstum auf bis zu 20 Milliarden Dollar in 2028. Überall positionieren sich Indoor-Farmen als eine der Lösungen nicht nur in Pandemiezeiten, sondern für die Ernährungsprobleme der Zukunft: eine auf 9,7 Milliarden Menschen angeschwollene Weltbevölkerung in 2050 und zunehmende Wetterkatastrophen. „Die industrielle Landwirtschaft ist für 17 Prozent der globalen CO₂-Emissionen verantwortlich. Wenn wir vor Ort produzieren, dann können wir uns darauf konzentrieren, den Geschmack und die Qualität zu optimieren und nicht die Haltbarkeit der Produkte über die Lieferwege hinweg“, sagte Guy Galonska in einem Interview mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau. „Und wir produzieren nachhaltig: Jede unserer Farmen verbraucht im Vergleich zur traditionellen Landwirtschaft 95 Prozent weniger Wasser, 95 Prozent weniger Bodennutzung, und wir verwenden keine chemischen Pestizide. Unser Ziel ist es, eine CO₂-neutrale Produktion zu erreichen.“
Wenn es nach Dr. Nate Storey von Plenty in San Francisco geht, könnten platzsparende Indoor-Farmen Bauernhöfe oder Gewächshäuser in Zukunft ganz ersetzen. Der Agraringenieur liebt es, den Vorzug vertikaler Anbauweise anschaulich zu machen: „Kein Mensch kommt ja auf die Idee, seine Bibliothek auf dem Boden zu verteilen“, hat er mal erklärt. „Wir können so der Welt Platz für echte Natur zurückgeben. Den Dschungel von Borneo den Orang-Utans, den Mittleren Westen Amerikas den Büffeln und den Amazonas dem Planeten Erde.“ Plenty beliefert seit 2014 mit seinen teils robotergesteuerten Farmen heute vor allem die marktführenden, regionalen Supermärkte in Kalifornien, Wyoming und Washington. Das Unternehmen, in das auch Jeff Bezos von Amazon zusammen mit anderen Großfinanciers bisher über 541 Millionen Dollar investierte, gehört heute zu den Marktführern in den USA.
Storey denkt schon viel weiter: „Wenn man überall auf der Welt lokal, nachhaltig und unabhängig von Klima, Sonne und Luft die gleichen nährstoffreichen und schmackhaften Pflanzen anbauen kann, dann könnten wir uns auch auf dem Mars ernähren.“ Und damit schließt sich der Kreis zur NASA, wo in den 80er-Jahren die Grundlagen der Vertical-Farming-Technologie gelegt wurden: In einer Kammer mit erhöhtem Luftdruck, die von einer Mercury-Raumkapsel übrig geblieben war, stapelten Techniker die ersten Reihen von Hydrokulturschalen wie Bücherregale an den Wänden. Sie wollten die Ernährung von Astronauten beilangen Einsätzen im All erforschen.