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Lasst es leuchten! by Martin Tschechne | 3. Juni 2022 | Personalities

Lasst es leuchten ! Während der Pandemie haben wir es alle gespürt: Blumen machen glücklich. Bringen Licht ins Alltagsgrau, schenken Kraft und Hoffnung. Ihr Umsatz stieg im letzten Jahr um zehn Prozent. Und die Kompositionen sind extravaganter denn je. Die große Zeit der Blumenkunst ist gekommen, auch dank der Bühne Social Media.

Fünf Uhr morgens, noch kaum jemand unterwegs. Lewis Miller rumpelt mit seinem Truck die Sixth Avenue hinauf. Die Ampeln sind auf grüne Welle geschaltet, Miller freut sich: ein gutes Zeichen. Gleich wird er die Ordnung der Stadt herausfordern. Aber welche Regel verletzt eigentlich, wer seinen Mitmenschen zu dieser frühen Stunde einen Freudenschock durch die Adern jagt?

„Ihre Schönheit ist der Daseinszweck der Blumen. Warum ersticken wir diese Wahrheit untereinem Haufen von Bedeutungen?“ LEWIS MILLER

Der Designer, spezialisiert auf die Choreografie üppiger Blumen-Arrangements für Partys und Feste, genießt an diesem New Yorker Morgen das leichte Kribbeln von Adrenalin. Auf der Ladefläche des Lastwagens türmen sich Tausende von Dahlien, dunkelrot und bernsteingelb. Am Abend zuvor noch hatten sie eine glanzvolle Gala dekoriert. Gleich wird er einen neuen Platz für sie gefunden haben, eine mit Graffiti besprühte Hauswand, einen Mülleimer, vielleicht das Absperrgitter einer Baustelle oder einen Luftschacht der U-Bahn – und dann ist es eine Sache von Minuten, das Grau des anbrechenden Tages in einer Orgie aus Blütenpracht und Farbe explodieren zu lassen. Ohne Auftrag, ohne Genehmigung. Ein paar erste Jogger traben vorbei.

Flower Flash nennt Miller seine Attacken auf den öffentlichen Raum, wie gemacht für Instagram. Leuchtend blaue Hortensien und Nelken in dreistem Pink, Lilien, Gladiolen, Rittersporn und Rosen. Mengenangabe: mindestens so viel, wie zwei Arme umfassen können. Eher mehr. Alles, was da ist. Der Truck ist ja auf große Ereignisse zugeschnitten, Hochzeiten, Modenschauen, Bälle. Eines Nachts im Oktober 2016 war dem in Kalifornien aufgewachsenen Blumen-Guerillero der Kontrast aufgefallen: die sinnliche, leuchtende Schönheit seiner Bouquets und Tafeldekorationen – und die Tristesse der Straßenschluchten ringsherum. Seither greift er ein. Manchmal nimmt er auch ein Reiterdenkmal ins Visier, eine Verkehrsinsel, einen Briefkasten.

Seine spontane Kunst, mit der er Blumen in die Freiheit entlässt, ist ein Anschlag auch auf die Konventionen der Kunstgeschichte, in der Blumen über Jahrhunderte als Symbole menschlicher Gefühle dienten. Die innige Zartheit eines Seerosenteichs von Claude Monet: schön. Die unverhohlene Lüsternheit einer Orchideenblüte auf den Gemälden von Georgia O’Keeffe, Stempel und Staubgefäße, nackt und eindeutig in ihrer Absicht. Oder die angstvoll angedeuteten Giftkräuter auf dem Porträt des verhassten Despoten: Ganze Bibliotheken sind den subtilen und nicht ganz so subtilen Feinheiten der floralen Symbolik gewidmet. Jedes Stiefmütterchen trägt die Last einer zugeschriebenen Bedeutung, Friedhofslilien, gelbe Rosen, das hingehauchte Buschwindröschen. In Japan lehren konkurrierende Schulen des Ikebana, das Gewicht der Welt zum Schweben zu bringen: in einem knospenden Zweig, zwei Grashalmen und einer Lotosblüte. Miller aber zieht es vor, in die Vollen zu greifen. Wenn er eine ganze Bushaltestelle unter leuchtenden Sonnenblumen verschwinden lässt, dann steht ein Vincent van Gogh eben mal da wie in kurzen Hosen.

Es sind die zwei Seiten des Barock, Wollust und Vergänglichkeit, die der New Yorker Blumenkünstler in seinen Arrangements zelebriert. Und er ist nicht allein: von London bis Los Angeles, von Antwerpen bis ins ländliche Somerset entdecken – und feiern! – Virtuosen wie Eric Buterbaugh oder Georgie Newbery diese frische, schamlose Natürlichkeit. Eric Chauvin in Paris, Makoto Azuma in Tokio, Victoria Brotherson, Olivier Giugni oder Mark Colle – und immer ist auf den höchsten Gipfeln der Schönheit auch deren Ende zu ahnen.

Überfluss, sagt Lewis Miller. Gegensätze, Spiel, auch eine Spur von verrücktem Humor. Und vor allem ungestüme Energie – das treibt ihn an. „Ich bin im Fantasiegeschäft“, meint der Künstler in einer Geradlinigkeit, die vielleicht nur in dieser Stadt anzutreffen ist. „Ich verwandle Augenblicke in Erinnerungen.“ Doch bei allem Respekt für seine zahlenden Klienten, denen er große Momente ihres Lebens mit prachtvollen Bouquets umkränzt – der wirkliche Spaß, der letzte Kick folgt am Morgen. Wenn ein Passant stehen bleibt, seinen Augen nicht traut, vielleicht ein schnelles Foto schießt. Und lächelt. Dafür lohnt sich der ganze Kitzel.

So war es an diesem Abend vor ein paar Jahren, als er mit einem Arm voll Pfingstrosen sein Atelier verließ. Die Blüten waren weit geöffnet, ein bisschen zu weit vielleicht, um sie noch als ein Versprechen verkaufen zu können: Sie hatten den Höhepunkt ihrer Pracht erreicht, einen Moment voll Wahrheit und Ahnung. Wer jetzt nicht mit beiden Händen nach dem Leben greift … Miller spürte die Blicke der Entgegenkommenden. Was er in ihren Augen sah, war ein Hunger – nach Schönheit, Farbe, Verlockung. Nach einem Jetzt!

Genau dazu sind die Blüten ja da. Genau deshalb breitet die Natur sie in verschwenderischer Fülle aus. Wo alles Ökonomie ist, Spekulation und Warten – da ist ein explodierender Strauß aus Hortensien, Rosen und Gladiolen so etwas wie ein kurzer Blick ins Paradies.

Issue3/22
City/Country-
PhotographyIrini Arakas Greenbaum