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Virale Weisheit by Silke Bender | 21. März 2023 | Personalities

Das Phänomen Jay Shetty in Zahlen: Über Facebook, YouTube, Instagram und Twitter erreicht er über 47 Millionen Menschen. Seine Videos wurden mehr als zehn Milliarden Mal geklickt. „On Purpose“ ist der weltweit erfolgreichste Podcast im Gesundheits- und Wellness-Bereich, und sein erstes Buch „Think Like a Monk“ führte die „New York Times“-Bestsellerliste an. Hollywoodstars buchen ihn sogar als Hochzeitsredner. Wer ist dieser Mann, was sein Erfolgsgeheimnis?

Mit seinen hellgrauen Augen, Dreitagebart und dem Boxhandschuh-Tattoo am Hals ist der 35-jährige Jay Shetty so etwas wie der Posterboy für zeitgenössisch angewandte altindische Weisheiten geworden. Halb Guru, halb Popstar füllt der im Internet groß gewordene Motivationsredner in den USA heute ganze Stadien. So sexy und unterhaltsam wie er hat bisher noch keiner über die Gebote für ein gutes Leben ge- predigt und philosophiert. Ob es um Träume, Ängste und Enttäuschungen geht, in der Lie- be, der Familie oder im Job, für alles hat der strahlend smarte Shetty einen guten Rat: Wa- rum bin ich immer noch Single? Wie bekomme ich mehr Selbstdisziplin? Warum sollte ich mich nie mit anderen vergleichen? Wie finde ich meine wahre Berufung?

Seine Weisheiten verpackt er je nach Medium in leicht verdauliche Bissen aus kurzen Aphorismen, längeren Podcast-Gesprächen mit Prominenten oder hoch professionell geschnittenen Videoclips. Als Gastredner wird er zu Google, HSBC, Facebook oder zur Nasdaq eingeladen. Der Gehalt seiner Erkenntnishäppchen geht auf den ersten Blick kaum über erbauliche Kalendersprüche hinaus. Ein Beispiel aus seinem Buch „Think Like a Monk“: „Wenn wir das Gute in anderen suchen, sehen wir auch das Beste in uns selbst.“ Oder auf Instagram: „Du kannst keine feste Beziehung mit jemandem führen, der dir gegenüber wankelmütig ist“, schreibt er da. Und dann: „Lies das noch einmal.“ In der Bildunterschrift fügte Shetty hinzu: „Liebe ist eine tägliche Anstrengung. An manchen Tagen mag es leichterfallen als an anderen, und das ist in Ordnung, aber was immer gleich bleiben sollte, ist der Respekt und die Bewunderung, die man für die Werte und Ziele des Partners hat.“

Als Topmodel Gisele Bündchen diesen Post mit einem Danke-Emoji versah, nahmen die US-Klatschmedien das als Anlass, in diversen Artikeln darüber zu spekulieren, dass sie sich nun endlich zur Scheidung von Footballstar Tom Brady entschieden hatte. Jay Shettys Worte und die Reaktionen darauf haben Einfluss. Besonders Hollywood scheint an den Lippen dieses Bollywood-Weisen zu kleben. Will Smith philosophierte in Shettys Podcast-Serie auf YouTube über den Preis des Erfolgs, als Jennifer Lopez und Ben Affleck im zweiten Anlauf heirateten, wählten sie Jay Shetty als denjenigen aus, der durch die Zeremonie führte.

Storytelling, die Kunst, Geschichten packend zu erzählen, ist die wohl älteste und erfolgreichste Marketingstrategie der Welt. Und darin ist Shetty ein Meister. Seine eigene Geschichte geht in der Kurzform so: Es war einmal ein unbeliebter, unglücklicher Teenager mit indischen Wurzeln, der im Norden Londons aufwuchs, als Wirtschaftsstudent hingerissen der Rede eines Hindu-Mönchs zuhört, daraufhin drei Jahre selbst als Mönch in Indien lebt, mit viel Weisheit im Gepäck zurückkommt, zunächst keinen Job findet, täglich seine Niederlagen und Gedanken auf den sozialen Medien teilt, die Frau seines Lebens findet und fast über Nacht zum gefeierten, millionenschweren Star wird.

Es sind Geschichten wie diese, die die USA und insbesondere Hollywood schon immer begeisterten, und so ist es kein Wunder, dass der gebürtige Brite hier seinen Durchbruch feierte und heute in Los Angeles wohnt: in der Welthauptstadt der Selbstvermarkter, in der nach Geld und Erfolg ebenso obsessiv gestrebt wird wie nach Geist und Sinn. Mit der LOHAS-Bewegung (Lifestyles of Health and Sustainability) in den frühen 2000er-Jahren wurde Yoga in Los Angeles zum Volkssport, gefolgt von Meditation und vegetarischer Ernährung. All diese Praktiken finden ihren Ursprung in Indien, sie haben den spirituellen Boden bereitet für den Erfolg von Jay Shetty, der nicht nur alte indische Philosophie rasant frisch erzählen kann, sondern das authentische Gesicht dazu hat: Diversität, ob ethnisch, sexuell oder kulturell, ist heute das Gebot der Stunde. Shetty ist nicht nur ein Marketinggenie und gnadenlos guter Redner, sondern er hat neben der Aura auch noch das Gespür für das richtige Timing.

Bei der queeren Talkshow-Queen Ellen DeGeneres hatte er seinen ersten großen TV-Auftritt, er beschrieb seine Karriere mit folgenden Sätzen: „Ich wuchs in London auf, in einer indischen Familie, in der man bei der Berufswahl drei Optionen hatte: Arzt, Anwalt oder Versager. Meine Familie war davon überzeugt, dass ich mich für die dritte Möglichkeit entschieden hatte: Anstatt an der Abschlussfeier meiner Wirtschaftshochschule teilzunehmen, ging ich nach Indien, um Mönch zu werden.“ Drei Jahre, so erzählt er, sei er jeden Tag um 4 Uhr aufgestanden, habe vier bis acht Stunden meditiert, philosophische Schriften studiert und sein Leben dem Dienst für andere gewidmet.

ie wichtigsten Lektionen, die er dort lernte, beschreibt er so: „Der Wert von materiellen Dingen war gering bis null. Die Beherrschung des Geistes war keine Option, sondern eine Notwendigkeit für das Wohlbefinden. Disziplin war eine freudige und mächtige Kraft der Selbstfürsorge. Einfühlungsvermögen, Frieden, Achtsamkeit und Liebe waren die einzigen Wege zu Reichtum und Erfolg.“ Einer seiner Lehrer riet ihm schließlich, nicht das Mönchsein sei sein Pfad, sondern der, seine Erfahrung und Weisheit mit anderen zu teilen. Hoch verschuldet kehrte Shetty mit 26 zu seinen Eltern zurück in den Norden Londons. Schrieb 40 Bewerbungen, bekam 40 Absagen.

Seine Erfahrung als Mönch schien den Personalchefs zunächst keinen Pfifferling wert, seinen ehemaligen Kommilitonen aber schon. Einige hatten in der Zwischenzeit in großen Unternehmen Fuß gefasst, litten unter Stress und Unzufriedenheit, und sie luden den einstigen Mitstudenten ein, sie in Sachen Wohlbefinden, Zielsetzung und Achtsamkeit zu coachen. Über diesen Umweg kam Jay Shetty zur Unternehmensberatung Accenture, um dort die Social-Media-Abteilung zu leiten.

Er begann, auch private Motivationsvideos auf Facebook online zu stellen, die so viel Aufmerksamkeit erregten, dass die Journalistin Arianna Huffington ihn engagierte: als Videoproduzenten ihres Newsportals „Huffington Post“ in New York City. Der Sprung über den Atlantik gab seiner Karriere Rückenwind. Der schöne Jay Shetty und seine ebenso schöne, frisch angetraute Ehefrau Radhi Devlukia-Shetty wurden mit offenen Armen empfangen.

2017 wurde Jay Shetty in der Liste des „Forbes“-Magazins „30 Under 30“ als „Gamechanger“ ausgezeichnet. Sein Video „Before You Feel Pressure“ wurde 2018 mit 380 Millionen Aufrufen die Nummer eins auf Facebook. Vor Shetty scheint eine goldene Zukunft zu liegen. Das Geschäft mit spiritueller Lebenshilfe boomt in den USA, es wächst jedes Jahr zweistellig. Schon heute wird dieses Segment des US-Markts auf etwa zwei Milliarden Dollar Umsatz geschätzt, weltweit soll es bis 2027 auf etwa neun Milliarden Dollar anschwellen.

Viele Prominente tummeln sich bereits jetzt auf diesem lukrativen Feld: Talk-Diva Oprah Winfrey und Sängerin Alicia Keys haben mit dem Alternativmediziner Deepak Chopra eine mehrteilige Meditationsapp zu Themen wie „göttliche Weiblichkeit“ oder „innerer Frieden“ herausgebracht, sie ist mit 50 Dollar pro Folge relativ preiswert. Shetty-Entdeckerin Arianna Huffington hat nach ihrem Burnout „Thrive Global“ gegründet, ein Startup, das sich mentalen Gesundheitsthemen ver schrieben und bis heute in mehreren Finanzierungsrunden 150 Millionen Dollar eingesammelt hat.

Noch ist Jay Shetty der Superstar der Bewe- gung, er soll als Gastredner bei Live-Events bis zu 200.000 Dollar pro Auftritt verdienen. Auf seiner ersten Welttournee kosten die VIP-Plät- ze bis zu 750 Dollar, inklusive Meet & Greet und Meditation vor der Show.

Den ersten Skandal gibt es auch schon im Hochglanz-Märchen des Jay Shetty: In einem frechen und gut recherchierten Video belegte die kanadische YouTuberin Nicole Arbour, dass nicht alle weisen Sprüche auf seinem Mist gewachsen sind, sondern teils schamlos geklaut wurden. Shetty reagierte still und weise wie ein Mönch: 113 Posts schickte er unauffällig ins Nirwana und hinterließ auf Twitter einen nebulösen Kommentar von zeitloser Gültigkeit: „Wenn du über dich selbst lachen kannst, wird dir nie der Stoff ausgehen, über den du lachen kannst.“ Diesmal vergaß er nicht, den Autor zu erwähnen: den römischen Philosophen Epiktet.

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