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Magische Welten aus der Dose by Martin Tschechne | 1. Dezember 2023 | Personalities

Künstliche Intelligenz verändert auch den Umgang mit Architektur. Hajar Ali hat darin ihre Chance erkannt. Die in Singapur geborene Designerin erfindet vollständig eingerichtete Sehnsuchtsorte, die es zunächst nur in ihrer Fantasie gibt.

Sie hat Rub al-Khali durchwandert, als erste Frau allein im Leeren Viertel, der Wüste zwischen Riad in Saudi-Arabien und dem Jemen: tausend Kilometer nichts als Sand und sengende Hitze. Sie hat internationale Luxushotels vermarktet und an der Börse mit digitalem Geld gehandelt, hat in Afghanistan die Fronten des Krieges erkundet, in Patagonien eine Agentur für Abenteuerreisen gegründet und in ihrer Heimat Singapur den Newsletter für Mensa herausgegeben; sie selbst ist Mitglied dieser Vereinigung von Superintelligenten. Dann kam Corona und legte aller Neugier Fesseln an.Innen und außen vereint: Alis Bilder fassen Träume zusammen und kondensieren sie zu Architekturen. „Man muss hart verhandeln, bis die KI etwas hervorbringt, das den eigenen Absichten entspricht.“Hajar AliNicht ganz. Hajar Ali, Jahrgang 1979, durch Quarantäne an ihr Homeoffice gebunden, betrat die virtuellen Räume der künstlichen Intelligenz. Sie begann, mit KI zu experimentieren, und erlebte, was viele erleben, die sich vorwagen in die Tiefen des weltweiten Wissens, in denen Programme und Algorithmen die Regie übernehmen und Menschen erst ­einmal nur danebenstehen und geschehen lassen: Sie staunte. War fasziniert von den scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten zur Gestaltung und beschloss, sie zu entfalten. Zunächst entstanden surrealistische Kompositionen, denen noch viel vom Bewegungsdrang eines frei assoziierenden Systems anzusehen ist: Menschen, Räume, Strukturen, fröhlich durchei­nandergewürfelt, alles ziemlich bunt. Ein bisschen Max Ernst, ein bisschen Spielkonsole. Es war auch so etwas wie eine Abenteuerreise, doch davontragen ließ Ali sich nicht: „Künstliche Intelligenz beruht immer auf dem, was Menschen ihr eingegeben haben“, das war ihr rasch klar geworden. „KI hat keinen eigenen Willen und kann keine eigenen Konzepte entwickeln.“Aber genau damit empfahl sich die Methode als Werkzeug ihrer Imagination. „Ich musste mich tief hineinwühlen, bis der Computer mir etwas anbot, womit ich nicht gerechnet hatte“, sagt sie. Und lässt andererseits keinen Zweifel daran, dass künstliche Intelligenz zwar das Produkt einer riesigen, amorphen Masse von Daten sein mag, von Bildern, Texten und Formeln – zugleich aber ist sie ein Abbild der natürlichen Intelligenz dessen, der sie einsetzt und beherrscht. Der sie mäandern lässt, aber dann ihre Resultate bewertet, sortiert und neue Direktiven gibt. „Man muss hart verhandeln“, sagt Ali, „bis die KI etwas hervorbringt, das den eigenen Absichten entspricht.“So nahmen ihre magischen Räume Form an, und mit der Geste einer Geschichtenerzählerin lädt sie ihr Publikum auf Instagram ein, sich auf seidenweichen Kissen niederzulassen, in offenen Loggien Platz zu nehmen oder sich in die Geborgenheit einer Grotte zurückzuziehen, während der Blick über strömendes Wasser geht, tief hinein in einen majestätischen Urwald, über eine flimmernde Ebene. Im Dunst der Ferne zeichnet sich eine schroff gezackte Bergkette ab. Die Hitze des Tages weicht nachtblauer Kühle. Ein schwarzer Konzertflügel steht vor der Wand eines Kreidefelsens. Wolken spiegeln sich in der Oberfläche eines Wasserbassins, Flammen züngeln aus einer Opferschale. Manchmal weht den Betrachter etwas Heiliges an. KI-Programme wie Midjourney oder Stable Diffusion bieten eine reiche Datenbasis für solche Erzählungen – doch je unnachgiebiger Hajar Ali verhandelt, desto deutlicher geben sich auch ihre eigene Handschrift und Absicht zu erkennen. Ihre Bilder fassen Träume zusammen und kondensieren sie zu Architekturen, die erhaben und still wirken wie Andachtsräume und zugleich vertraut wie ein Déjà-vu: Waren wir hier nicht schon einmal? Ist dies der Ort, von dem wir kamen? Ist er das Ziel unserer Reise? Doch schon einen Wimpernschlag später gerät das routinierte Ordnungssystem der Wahrnehmung ins Stocken: Welche Horizonte öffnen sich hier? Wie kann eine Wasserfläche so leicht über dem Schlund einer Felsenschlucht schweben? Hatte der Architekt Frank Lloyd Wright so etwas im Sinn, als er sein berühmtes Haus Fallingwater in den Wäldern von Pennsylvania baute? Und wer seit dem russischen Revolutionskünstler El Lissitzky mit seinem frei hängenden Wolkenbügel hat sich so unverschämt über die Gesetze der Schwerkraft hinweggesetzt?Hajar Ali winkt ab. Zaha Hadid, antwortet sie auf die Frage nach einem Vorbild in der Architektur, schnell und entschieden – doch sind es nicht die Pionierleistungen in der Konstruktion, auf denen ihr Respekt für die 2016 gestorbene Baumeisterin beruht. Nein, Ali bewundert die aus dem Irak stammende Hadid, 2004 als erste Frau ausgezeichnet mit dem Pritzker-Preis, für die Unbeirrbarkeit, mit der sie die gezackten Vektoren und die weit ausladenden Schwünge ihrer Entwürfe durchsetzte. Hadids Hintergrund in Mathematik habe sicher dabei geholfen, aber es fällt auch das Wort „Furcht­losigkeit“. Darin erkennt Ali sich wieder.Denn als Künstlerin ist sie Autodidaktin. Sie besuchte keine Bauakademie und keine Kunsthochschule, sondern das Institut für Verteidigung und strategische Studien in Singapur. Sie versteht sich auf die Analyse komplexer Systeme und auf zielführende Planung, hat die französischen Poststrukturalisten studiert, Foucault, Baudrillard, Deleuze, hat Theodor Adorno gelesen, die Schriften des italienischen Marxisten Antonio Gramsci und beruft sich immer wieder auf das Werk des aus Palästina stammenden Amerikaners Edward Said, der mit seinem Konzept des Orientalismus scharfe Kritik übt an dem, was vom Kolonialismus übrig geblieben ist: ein kalter, herablassender Dünkel des Westens gegenüber den Kulturen Asiens und des Orients. Hajar Ali bekennt sich zum muslimischen Glauben.Kürzlich ist sie aus ihrer Heimat nach Dubai umgezogen, pure Strategie: Sie will den Praktikern näher sein, denen also, die am Ende aller Diskursanalyse und Dekonstruktion tatsächlich bauen. Dafür lässt sie sich mit ihren Visio­nen einbinden in architektonische Entwicklungsprozesse, beugt sich über Grundrisse und Gebäudepläne, richtet sich nach geplanten Blickachsen und der Position von Wänden und gibt alles ein in die Iterationsschleifen ihrer KI. „Die Resultate unterscheiden sich deutlich von dem, was ich in den sozialen Netzwerken zu erzählen habe“, gibt sie zu. Aber sie dienen einer Architektur, an deren Entwicklung sie teilhaben möchte, nachhaltiger, mutiger und zugleich spiritueller als das, was der Markt heute zu bieten hat. Neue Formen, neue Materialien, eine neue Gemeinschaft. Und ganz gewiss hat sie genug Luxushotels gesehen, um auch die Kunst der Verführung zu beherrschen. Mit Informationen über die Umsetzung ihrer Visionen hält sich Ali sehr bedeckt. Bisher könne sie nur verraten, dass die Modedesignerin Diane Goldstein sie mit Konzept und Design einer Boutique in Los Angeles beauftragt hat, sagt sie. Über weitere kommerzielle Projekte werde sie erst sprechen, wenn ihre Klienten sie öffentlich gemacht haben. Nur so viel: „Wer das Potenzial von künstlicher Intelligenz in der Bautechnologie wirklich erkennt, sind die Katarer. Die Geschwindigkeit, mit der sie bauen, ist schon jetzt einzigartig.“Vor knapp hundert Jahren durchquerte die Britin Rosita Forbes als erste westliche Frau die Sahara. Die Zeitgenossen staunten, waren begeistert, manche empört. Ein paar Jahre später fasste sie ihre Begegnungen mit mutigen Frauen auf der ganzen Welt in ihrem Bericht „Women Called Wild“ zusammen, Frauen, die man eben als wild bezeichnet. Schon der Titel lässt ahnen, dass sich da eine gegen die gängigen Klischees zur Wehr setzt. „womancalledwild“ heißt auch die Domain, unter der Hajar Ali im Netz erreichbar ist. Denn darum geht es ihr, wenn sie ihre KI auf die Reise schickt, um ­daraus Räume zum Leben zu entwickeln: um eine Antwort auf den westlichen Orientalismus. Um das Selbstbewusstsein ihrer eigenen Kultur. Um die Rechte von Frauen. Um Respekt.

IssueGG Magazine 01/24
City/CountrySingapore
PhotographyHajar Ali