Eine Begegnung mit einer Legende by Marcus Luft | 28. Februar 2025 | Personalities
Mit ihrer Liebe zum Detail, ihrem Gespür für Stil und der Kompromisslosigkeit bei Materialien erschuf Jil Sander Mode, die überlebt. Anlässlich des neuen Buches „Jil Sander by Jil Sander“ spricht die Designerin hier exklusiv über ihre Vision, die Neudefinition von Klassik und verrät, ohne welches Kleidungsstück sie nicht leben kann.
Vielleicht ist es dieser winzige, mit Efeu umrankte Hinterhof, den man von der Straße aus kaum sieht. Oder es sind die Geschäfte, die sich wie Perlen auf wenigen Metern aneinanderreihen. Mit Sicherheit aber ist es die Ruhe, die in den kleinen Straßen zwischen Alster und Mittelweg herrscht. Ja, man kann wirklich von einer Oase reden, wenn es um dieses entzückende Dorf mitten in Hamburg geht. „Hamburg 13“ wird Pöseldorf auch heute noch von den Liebhabern genannt, die seit Generationen in den Stadtvillen wohnen – so hieß früher die Postleitzahl dieses Stadtteils. Häuser, die so weiß sind, dass sie einen blenden. In der Stadt erzählt man sich, dass diese Schönheit nicht käuflich sei. Kaum eine Villa kann man hier inzwischen noch erwerben – sie wird an die nächste Generation vererbt. Und auch Besucher, die man hierherbringt, erstarren fast vor dem Ambiente dieses Ortes. Weil er ein Diamant ist, so einzigartig wie die Mode von Jil Sander.
Sander, das muss man wissen, ist nicht nur eine Vorreiterin in der Mode. Sie gehört auch zu jenen, die Pöseldorf in den Siebzigern chic machten. Hier, in der Milchstraße, eröffnete sie im Jahr 1968 ihren ersten Laden. Schwarz war er von außen gestrichen, die Arrivierten sagten ihr, das gehe nicht. Also erwiderte sie: „Das Geschäft ist ja auch dunkelgrau.“ Und es sieht bis heute noch fast so aus wie damals.
Von diesem Ort bis zu ihrem heutigen Atelier, das sich direkt neben ihrer imposanten Villa befindet, sind es genau zwei Gehminuten. Mit ihrer Mission, der ständigen Suche nach Perfektion, hat es Jil Sander weit gebracht. In SchleswigHolstein in der Nachkriegszeit und einfachen Verhältnissen aufgewachsen, verkaufte sie Ende der 60erJahre ihr Auto und nahm einen Kredit auf, um eine Boutique in dem damals angesagten Hamburg-Pöseldorf zu eröffnen. 1974 startete sie mit einer eigenen Kollektion, die sie bereits ein Jahr später in Paris zeigte. In den Achtzigern machte sich Jil Sander vor allem bei berufstätigen Frauen einen Namen, ihre Mode war weniger starr und gut kombinierbar.
„Zu Anfang meiner Karriere hatten es Frauen schwer, sich durchzusetzen, weil die Mode sie nicht als gleichberechtigte Partner im öffentlichen Leben ansah. Ich wollte die Frau nicht verkleiden, sondern ihre Persönlichkeit unterstützen. Ihr Respekt entgegenzubringen, ist auch eine Funktion von Kleidung“, sagt sie dem Magazin „Stern“. Mit dieser Vision und einer Schnitttechnik, die Mode leichter und selbstverständlicher aussehen ließ, wurde Jil Sander zur „Queen of Clean“.
Ihr Unternehmen wuchs. Sie revolutionierte auch die klassische Herrenmode und war die Erste, die schmal geschnittene Businessanzüge auf den Markt brachte. Sie lancierte Parfums, für die sie erstmals persönlich in Anzeigen warb und die bis heute Bestseller sind. 1999 verkaufte Sander Anteile ihrer mittlerweile zur Aktiengesellschaft umgewandelten Firma an Prada, schied 2000 aus dem Unternehmen aus, kam 2003 für ein Jahr wieder. Ab 2009 arbeitete sie mit einer längeren Unterbrechung für Uniqlo und entwarf mit weltweitem Erfolg ihre „+J“Kollektion. Ihren Perfektionismus beschrieb sie einmal so: „Ein Kompromiss verdirbt alles. Es ist nicht egal, welchen Stoff man nimmt, welchen Schnitt, welches Model. All diese Entscheidungen werden unter höchstem Druck mit absoluter Konzentration getroffen. Und es ist bei allem Stress auch ein großes Glück, zur richtigen Lösung zu finden. Warum sollte man auf diese Genugtuung verzichten?“ Einen Begriff, der ihre Arbeit widerspiegelt, mag sie dagegen gar nicht. Sie sei keine Minimalistin, sagt sie. Im Gegenteil: „Die Preise der Stoffe, die ich verarbeitet habe, sprechen von einer anderen Art der Opulenz. Um den Purismus zu verwirklichen, den ich schätze, sind zahllose Fittings und große Einsätze auf allen Ebenen nötig. Wenn ein Kleidungsstück Energie haben soll, muss man viel Zeit und Geduld investieren.“
Wer Jil Sander trifft, spürt einerseits ihre Aura – aber auch eine wunderbare Wärme, die sie umgibt. Geht es um die Umsetzung ihrer Vision, ist sie „gnadenlos“. Abgeschrägte Fensterbänke sorgten früher in den Büros dafür, dass niemand Topfpflanzen darauf stellen durfte. Dazu sagt sie: „Ich möchte ständig alles um mich herum verschönern. Das war schon in der Kindheit so, als ich meine Familie in Kleiderfragen beraten habe. Ich denke über alles nach, was mich irritiert, ob es ein Parfumflakon oder ein Gebäude ist. Jedenfalls wird diese Welt nie fertig werden, denn das Gefühl von Stimmigkeit ändert sich im Laufe der Zeit.“ Noch immer arbeitet sie. Ein noch geheimes Designprojekt liegt in den finalen Zügen. Zwei Jahre lang arbeitete die 81-Jährige an einem Bildband „Jil Sander by Jil Sander“, der kürzlich lanciert wurde.
Frau Sander, niemand hat als deutsche Designerin die Mode so sehr geprägt wie Sie. Was bedeutet für Sie Modernität?
Für mich liegt sie nicht nur in gestalteten Objekten, sondern auch in einer Atmosphäre, die neugierig und offen ist. Und die brauchen wir heute wieder. In der Pandemie hatten die Menschen viel Zeit zum Nachdenken und Überprüfen. Ich spüre die Neuorientierung vor allem bei der jungen Generation, die aussortiert und sich auf essenzielle Dinge konzentriert. Darin liegt eine Energie, die für neue ästhetische und funktionale Wege nötig ist.
War Ihnen eigentlich von Anfang an klar, wie revolutionär Ihr Design ist?
Revolutionär ist ein zu starkes Wort. Aber ich habe versucht, die Mode voranzubringen. Als ich anfing, gab es besonders für Frauen kaum modernes Understatement. Die Mode hat sie auf eine Rolle festgelegt und in ihrer Persönlichkeitsentfaltung eingeschränkt. Es war meine Vision, das zu ändern.
Haben Sie ab und an mit Ihrer Vision gehadert? Hat sich diese vielleicht auch mal verändert oder angepasst?
Sie hat sich konkretisiert und auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert. Kunst und Architektur sind oft viel weiter als die Mode. Davon habe ich mich anregen lassen.
Hat sich diese Definition im Laufe der Jahre für Sie verändert?
Nein, aber ich habe erlebt, dass Modernität keine Bedeutung mehr hatte. Wir haben lange in der Postmodernität gelebt.
Welche Rolle spielen Design und Qualität für zeitlose Mode?
Ich glaube nicht an zeitlose Mode. Die Mode ist immer ein Kind ihrer Gegenwart. Aber sie braucht gutes Design und Qualität, um ihre Zeit zum Ausdruck zu bringen. Es ist gar nicht so einfach, seiner Gegenwart zu entsprechen. Für meine Arbeit war es immer zentral, die erschöpften Lösungen der Vergangenheit zu vermeiden.
Beim Stichwort „zeitlos“ denken viele an klassische Basics. Was verbinden Sie damit?
Gerade Basics sind zeitabhängig. Zum Beispiel der Anzug, dem man ansieht, ob er noch modern ist. Man muss Klassik immer neu definieren, durch Proportionen, die Inanspruchnahme technischer Entwicklungen und die Suche nach Neuem. Klassik ist ein konkretes Ergebnis, keine Formel, die sich einfach anwenden lässt.
Wie hat Ihr Design die Modewelt von uns allen verändert?
Das müssen andere entscheiden.
Aber was macht für Sie persönlich das perfekte Kleidungsstück aus?
Es ist für mich sehr wichtig, wie man sich darin fühlt. Es stärkt und befreit die Träger, wenn das Material und auch der Schnitt eine moderne Haltung zum Ausdruck bringen. Im Design geht es mir darum, in der Gegenwart anzukommen.
Haben Sie eigentlich ein Lieblingskleidungsstück?
Ich brauche ein weißes Hemd, das ich dem Zeitgefühl entsprechend immer wieder aktualisiert habe, und ein perfekt geschnittenes T-Shirt aus ägyptischer Baumwolle. Ich nenne es mein Gesundheitsshirt. Die Baumwolle ist so fein, dass ich kein anderes Hemdmaterial ertrage. Ohne einen Vorrat davon bin ich aufgeschmissen. Deshalb habe ich es seit meinen Anfängen in jede Kollektion integriert.
Beige, Schwarz und Dunkelblau stehen für zeitlose Mode. Gehören auch stärkere Farben dazu?
Ich kann die Frage nicht abstrakt beantworten, weil ich viel Wert auf das Zusammenspiel von Material und Farben lege. Es kommt immer darauf an, wie sich ein Ton in einem Stoff entfaltet. In hochwertigen Textilien lassen sich auch mit starken Farben coole Effekte erzielen. Aber meine Lieblingsfarbe ist Dunkelblau, in allen Variationen.
Sie haben gerade das Buch „Jil Sander by Jil Sander“ lanciert. Was haben Sie dabei über Ihre eigene Arbeit gelernt?
Der Lernprozess fing mit unserer sehr kompakten Museumsausstellung 2017 in Frankfurt an. Damals haben wir das Archiv digitalisiert und uns intensiv mit der Vergangenheit beschäftigt. Die Jil-Sander-Kollektionen waren sehr variantenreich. Die Arbeit an diesem Buch hat mich darin bestätigt, dass ich längst nicht nur Business-Mode entworfen habe. Es gab viele feminine Looks neben Hosen und Anzügen. In „Jil Sander by Jil Sander“ gibt es viele Nahaufnahmen, die meine Liebe zum Detail in den Vordergrund stellen. Es hat mich gefreut, dass die vielen Details eine nähere Betrachtung aushalten.
Wann ist ein zeitloses Outfit nicht langweilig?
Wenn es nicht zeitlos ist.
Worauf muss man bei seiner Garderobe achten?
Ich möchte niemandem etwas vorschreiben. Modeentscheidungen beruhen letztlich auf Selbstbeobachtung: Fühle ich mich souverän in dem, was ich trage? Kann ich darin frei und selbstbewusst agieren? Hört man mir zu, oder betrachtet man mich nur? Ich fordere gerne dazu auf, meine Entwürfe anzuziehen und auf die eigene Stimme zu hören.
Mode verrät viel über ihre Trägerin, ihren Träger. Was drücken wir mit zeitlosen Looks aus?
Die Luxusbranche hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Es geht um schnelle Hypes, Accessoires und schnelllebige Trends.
Wie wäre Ihre Rolle als Designerin und Unternehmerin heute?
Ich spreche, wie gesagt, nicht gerne von „zeitlosen Looks“, eher von zeitloser Haltung, die sich den ästhetischen Kriterien der Gegenwart auch modisch immer neu anpassen muss. Meine letzte „+J“-Kollektion ist noch nicht lange her, und ich entwerfe weiter. Zurzeit schließe ich ein Designprojekt ab, mit dem ich sehr zufrieden bin.
Eine abschließende Frage: Wenn man im Ausland mit Architekten, Künstlern oder Designern über deutsches Design spricht, fällt allen immer nur Ihr Name ein. Ist Ihnen eigentlich bewusst, welchen Einfluss Sie weltweit haben?
Das gilt vielleicht in der Modebranche, aber es gibt natürlich viele großartige deutsche Designer. Wenn mir Anerkennung – auch aus anderen Ländern – entgegengebracht wird, bin ich immer sehr verblüfft. Während meiner Karriere hatte ich allerdings niemals wirklich Zeit, so etwas wahrzunehmen.






