Seereise ins zeitlose Eis by Wolfgang Gehrmann | 16. Juni 2017 | Travel
Faszination der weißen Weite: Der Klimawandel ermöglicht Expeditionen im Nordpolarmeer bis hinein in die Nordwestpassage. Zwischen Spitzbergen, Grönland und der Nordküste Kanadas warten Eisbären, Stille und Klarheit.
Endlich Eis!“ Was an diesem schönen Hochsommerabend auch der Willkommensruf für das Dessert beim Captain’s Dinner sein könnte, ist am 21. August tatsächlich Kapitän Thilo Natkes Logbuch-Eintrag unter der Position 68° 35‘ N, 111° 07‘ W. Die „Hanseatic“ hat sich gegen Mittag einen Weg durch ein Packeisfeld in der Dolphin and Union Strait gebahnt. Auf dem blechernen Spiegel der See bilden Eisbaisers aller Formate eine bizarre Landschaft, die sich unterm Licht einer fahlen Sonne zum Horizont hin verliert. Durch die arktische Kälte klingt eine perkussive Sinfonie, aufgeführt vom Schurren, Schaben und Bollern der Eisschollen gegen den Schiffsrumpf. „Das ersehnte Eis“, notiert der Kapitän in sein Logbuch, „lässt unsere Passagiere schnell auf der Back, dem Vorschiff, zusammenströmen. Das Schiff gleitet ruhig durch das Eis, und auch an Deck herrscht eine fast andächtige Stille.“ Für Momente wie diesen haben die Gäste des Expeditionsschiffs ihre Kreuzfahrt im höchsten Norden gebucht. Die einen haben vielleicht einfach genug südlichen Sommer gesehen. Die anderen wollen die Eiswelt der Arktis erleben, solange es sie noch gibt – Wale und Eisbären inklusive. Aber selbst Kapitäne, die wie Natke schon um die 150 Fahrten in Arktis und Antarktis hinter sich haben, geraten noch immer ins Schwärmen über den ganz besonderen Luxus, der Reisende hier erwartet: die Demut weckende Erfahrung von immenser Weite, Stille, Klarheit und sich der Kalkulation entwindender Zeit. Die Hamburger Reederei Hapag-Lloyd befährt die Routen im Nordpolarmeer zwischen Spitzbergen, Grönland und der Nordküste Kanadas sommers mit ihren kleinen Expeditionskreuzfahrtschiffen „Hanseatic“ und „Bremen“ – und reagiert auf die starke Nachfrage mit zwei Neubauten. Die Strecken und der Zeitrahmen sind vorgegeben, die Details bestimmen Wetter, Eisgang und Gezeiten. Oder der König der Arktis. Denn Captain’s Dinner hin oder her, das Bordrestaurant leert sich binnen Minuten, wenn der Expeditionschef sich mit der Durchsage meldet: „Eisbären gesichtet!“ Dann stoppt der Kapitän gern das Schiff, dreht und dehnt den Zeitplan schon einmal um eine Stunde, um die auf einer Scholle treibenden Bären zu beobachten. Eine Garantie ist im Passage-Preis nicht inbegriffen, aber glückliche Nordmeerreisende bekommen den einen oder anderen Blas zu sehen, begegnen Zwerg- oder Buckelwalen oder sogar einem Blauwal und sehen ein großartiges Schauspiel, wenn sich die Fluke aus dem Meer reckt, um mit zeitlupenhafter Eleganz wieder zu verschwinden. Bei Begegnungen mit Eisbären und Walen bleiben die Zodiacs, die bordeigenen robusten Schlauchboote, besser wo sie sind. Bei der Nummer drei der arktischen Big Three, dem Walross, dagegen werden sie zu Wasser gefiert. Die massigen Tiere sind friedlich und relaxen sowieso am liebsten auf Felsen und Eisplatten, rangeln allenfalls untereinander um die besten Liegeplätze. Wenn die Kolosse sich doch ins Wasser bequemen, lassen sie die Schlauchboote ohne Weiteres bis auf zwanzig Meter an sich heran.
Die Zodiacs sorgen auf den Polarkreuzfahrten für den Abenteuerfaktor und die ganz unmittelbare Nähe zur Arktis. In dicke Parkas, wasserdichte Überhosen und Gummistiefel verpackt, reiten die Kreuzfahrer über leichte Wellen; an der Westküste Grönlands lässt es sich so in einem schwimmenden Labyrinth aus neugeborenen Eisbergen schippern. Der Jakobshavn-Gletscher ist der produktivste Gletscher der Welt, er schiebt sich in warmen Jahren um bis zu 45 Meter täglich vor und entlässt bis zu 25 Millionen Tonnen Eis in die See. Die roten Expeditionsparkas der Kreuzfahrer sind ideale Fotomotive vor den gewaltigen blaukalten Wänden und bizarren Formationen der stillen Giganten. Titanic-Panik muss auch niemand haben: Den flachen Zodiacs droht keine Gefahr vom Eis unter der Meeresoberfläche. Und das wendige Mutterschiff von knapp 130 Metern Länge und fünf Metern Tiefgang kann dank seines Radars selbst bei Nebel und Dunkelheit sichere Distanz halten. Wo weit und breit kein Hafen wartet, ermöglichen die Schlauchboote „nasse Landungen“ auf dem Strand. Wenn Wetter oder Gezeiten das Schiff aufhalten oder wenn das Wasserflugzeug mit dem Eislotsen nicht kommen will, lässt sich gut mal eine spontane Tundrawanderung einschieben. Auf solchen Ausflügen verschieben sich die Maßstäbe; in den Weiten der arktischen Tundra schärfen sich die Sinne. Kleingetier wird jetzt aufmerksam wahrgenommen, bescheidene Flechten erscheinen schön und einzigartig wie üppige Frühlingswiesen. Auf Beechey Island halten sich die landschaftlichen Reize in engsten Grenzen. Drei Seemannsgräber auf der unwirtlichen Insel erinnern an die letzte Expedition des britischen Entdeckers John Franklin, der 1845 aufbrach und die Nordwestpassage entdecken wollte – einen Seeweg zwischen Atlantik und Pazifik durch das Polarmeer. Er hat ihn gefunden, befahren konnte er ihn wegen des Eises nicht: Er fand mit seinen 129 Männern den Tod im Eis. Als Folge der Erderwärmung ist die Passage seit einigen Jahren sommers soweit eisfrei, dass Kreuzfahrtschiffe sich ohne Eisbrecherhilfe hindurchwagen können. Beim Peel Sound auf halber Strecke kann die Passage allerdings noch immer kritisch sein, weil sich dort Packeisströme ineinanderschieben und opake Installationen aus vertikal aufgekippten Schollen schaffen, die eine tiefe Sonne illuminiert. Welche der rund ein Dutzend Inuit-Siedlungen zwischen Baffin Bay und Beaufort See sich erreichen lassen, ist immer ungewiss. Idyllische Orte sind sie allesamt nicht, einige hundert Seelen, Coop-Store, Post, Schule, Friedhof, alles den Notwendigkeiten einer Existenz unter harschen Bedingungen unterworfen. Wo das Eis den Reiserhythmus bestimmt, findet sich Zeit für ein Buch. Was sonst empfähle sich hier als Sten Nadolnys fabelhafter Roman über John Franklins Leben „Die Entdeckung der Langsamkeit“. Als der Entdecker 1818 zum ersten Mal jenseits des 81. Breitengrades mit der Brigg „Trent“ einfriert, lässt der Dichter ihn fasziniert sein von der funkelnden Eiswelt und ihrer absoluten Zeitlosigkeit – nicht anders als Kapitän Natkes Passagiere auf der „Hanseatic“ zweihundert Jahre später. Franklin sinniert, dass hier eigentlich niemand mehr ein Reiseziel brauche. Das Ziel war wichtig gewesen, um den Weg zu finden.