Die Kraft der Straße by Martin Tschechne | 2. März 2018 | Travel
Längst mehr als eine innovative Subkultur: Street Art ist in Galerien und Museen angekommen. Die Stars der Szene entwickeln Ideen für Mode und Design, greifen in die Stadtplanung ein und machen Millionen. Vor allem geht es den Künstlern noch immer darum: für eine bessere Welt zu kämpfen.
Diese Barbara müsste man kennenlernen! Ein paar Klebebuchstaben genügen ihr, um den Hinweis „Einfahrt Tag und Nacht freihalten“ in ein bedenkenswertes „Rassisten Tag und Nacht Mund halten“ zu verwandeln. Aus dem „Parkverbot“ wird ein „Denkverbot“, das „R“ in „Achtung Rutschgefahr“ verschwindet hinter den zwei Buchstaben „Kn“, der gelbe Hintergrund mit roten Küssen übersät. Und unter dem barsch formulierten „Bekleben verboten“ an einer Hauswand hängt ein zweites Schild mit der Erwiderung „Dieser Befehlston verletzt meine Gefühle“. An einer anderen Wand ein rotziges „Du klebst doch selber, du Lauch“. Ach, danke, Barbara, du bist wunderbar. Die bekannteste (und wohl fleißigste) Street-Art-Künstlerin Deutschlands ist mit ihren subversiven Botschaften unterwegs zwischen Berlin und Dresden, Hamburg und Heidelberg, doch selbst bleibt sie anonym. Niemand weiß, ob sie wirklich Barbara heißt und wirklich eine Frau ist. Als ihre witzigen, manchmal auch kackfrechen Sprüche 2016 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurden, schickte sie eine verschwiegene Stellvertreterin auf die Bühne. Denn selbst wenn die Lettern sich leicht wieder abziehen lassen und Sammler freudig zugreifen, sobald sie ein Original von Barbara entdecken – nach dem Gesetz ist das Bekleben oder Bemalen fremder Wände strafbar. Und der Dank für ein Innehalten im täglichen Trott, für ein kurzes Nachdenken oder ein kleines Schmunzeln gilt nicht als mildernder Umstand.
„Ich möchte Schönheit und Licht auch
in die armen Viertel der Stadt bringen.“
eL Seed
Aber längst ist aus der Szene der Parolenschreiber und Plakatekleber eine Kunst hervorgegangen, die mit einer geradezu atemberaubenden Vielfalt an Themen und Formulierungen Verbündete sucht. Und sie auch findet – von Brooklyn bis Moskau, von Kairo bis São Paolo, nicht zu vergessen Mexico City und Lissabon, Dublin und Dubai, Lagos, Mumbai, Sydney und Youssoufia in Marokko. Los Angeles und New York sind Hochburgen, ebenso London, Paris und Tokio. Es gibt Stadtteilprojekte, spezielle Touren für Touristen und sehr erfolgreiche Street-Art- Galerien. Im September 2017 öffnete in Berlin das Street-Art-Museum „Urban Nation“ seine Tore: 20.000 Besucher in den ersten zwei Monaten! Im Frühjahr zuvor hatten knapp 80.000 vor der Pop-up-Galerie „The Haus“ am Berliner Zoo Schlange gestanden. Aber wer die Augen offen hält, der entdeckt eine erstaunlich kreative Szene und erstaunlich kunstfertige und witzige Statements auch in Dresden oder Hamburg, Tel Aviv, Vancouver oder Genua. Die Stadt als Spielplatz? Der U-Bahn-Waggon in New York, der Hinterhof in Kreuzberg, die Betonfassaden der Banlieues als Tableaus der Agitation, irgendwo zwischen selbstherrlicher Pinkelmarke und dem Aufruf zur Solidarität, zwischen Aufrütteln und Zerstören? Das war vielleicht (und ist bis heute) ein Ausgangspunkt. Aber die Stars der Szene werden in Ausstellungen gefeiert, beliefern Sammler wie Brad Pitt, Angelina Jolie und Eric Clapton, sie erzielen – wie Banksy – siebenstellige Resultate in Auktionen oder arbeiten auf Kommission für Städteplaner und Modedesigner. Efkan Irkilata aus Kassel ist selbst nie mit der Spraydose durch die Stadt gezogen. Aber er greift Motive und Schriftzüge aus Graffiti und Street Art auf und arrangiert daraus Wandbilder für Clubs und Designs für Shirts und Lederjacken. Annie Preece aus Los Angeles arbeitet für Red Bull, Pabst Blue Ribbon und Warner und vertreibt ihre Arbeiten über die Galerie Lab Art in ihrer Heimatstadt. Gregory Siff aus New York arbeitet zusammen mit dem einflussreichen Kunsthändler und Kurator Jeffrey Deitch und entwickelt Projekte für PS1, das Experimentallabor des New Yorker MoMA, aber auch für Modelabel wie Saint Laurent und Helmut Lang und für Mercedes-Benz. Ist die Street Art also im Stadium der Gentrifizierung angekommen? Ist sie längst, klagt der enttäuschte Verehrer Alain Bieber im Kunstmagazin „Art“: „Jetzt bist du da, wo du nie hinwolltest. Plötzlich finden dich alle irgendwie super.“
Die alte Faustregel gilt noch: Kunst ist ein intellektueller Sport. Sie setzt Kenntnis voraus, sie entwickelt sich aus der Kunstgeschichte und dem Diskurs in einer eingeschworenen Gemeinschaft. Das ist honorig und gebildet – aber immer droht auch die Gefahr, dass sie über ihre Kreise nicht hinauskommt. Diese Kunst aber ist anders, verfolgt andere Ziele, nutzt andere Mittel. Die internationale Street Art entspringt dem rasenden Bedürfnis, sich mitzuteilen. Grenzen mal locker zu überspringen. Andere zu erreichen und zu begeistern. Missstände ans Licht zu zerren, in riesigen Lettern und knalligen Farben: Krieg, Flüchtlingselend, Turbokapitalismus, flächendeckende Überwachung. Sie entwickelt sich aus einer Ästhetik der Gegenwart und des Alltags. Sie tanzt im Rhythmus von Hip-Hop und Rap, sie nutzt die knackigen Formulierungen der Werbung und des Comicstrips, der Kalligrafie, der politischen Karikatur, der Apps und der Computerspiele, kombiniert sie klug und wirft alles wild durcheinander – um sich einzumischen, um Augen zu öffnen, Widerstand zu wecken, Politik zu machen. Kunst als Forum für Gesellschaftskritik? Geht das noch, wenn der Kommerz an jeder Straßenecke auf der Lauer liegt? Der aus Tunesien stammende Franzose eL Seed verwandelte einen ganzen Stadtteil von Kairo, das Viertel der koptischen Christen, der Müllsammler und Schweinezüchter, in ein riesiges, großartiges Emblem der Toleranz. Nie habe er intensivere Gemeinsamkeit erlebt, erzählt er, und Tränen treten ihm in die Augen. Der Ire Conor Harrington rückt seine epischen, hauswandfüllenden Szenen von physischer Gewalt genau da in den Blick, wo die urbane Architektur der Wohnsilos, Lagerschuppen und tristen Vorortstraßen selbst eine Gewalttat ist. Der Kanadier Richard Hambleton, gestorben im vergangenen Oktober, machte die dunklen Ecken von New York, Paris oder München durch seine schnell an eine Hauswand gefetzten Schattenmänner erst richtig bedrohlich. Oder Barbara. Sie schreibt: „Wer nichts hat und wer nichts kann, der zündet Flüchtlingsheime an.“ Zack. Noch Fragen? Fast 650.000 folgen ihr auf Facebook. Barbara und all die anderen Künstler haben einfach Joseph Beuys und Andy Warhol beim Wort genommen. Jeder Mensch sei ein Künstler, sagte der eine. Und jeder könne für 15 Minuten weltberühmt sein, ergänzte der andere. Propheten!
Und Leute wie Barbara oder Banksy, Harald Naegeli oder Blek le Rat, Shepard Fairey oder Ganzeer, Futura 2000, das Duo FAILE oder die Initiative #PaintBack, Swoon, Oz oder BLU – sie alle sagten: okay. Coole Idee. Machen wir. Aber schon auf den ersten Blick ist zweierlei zu erkennen: Das sind, erstens, keine Künstler, die sich ihrem Publikum beim Sektempfang in irgendeiner mondänen Galerie präsentieren, Küsschen und Hallöchen und so weiter. Harald Naegeli, einer der Urväter der Bewegung, in den späten Siebzigern unterwegs als mysteriöser „Sprayer von Zürich“, wurde international zur Fahndung ausgeschrieben, verhaftet, ausgeliefert und 1984 für seine Kunst ins Gefängnis gesperrt. Barbara weiß schon, warum sie lieber heimlich klebt. Und als die Londoner Zeitung „Mail on Sunday“ im Juli 2008 den Künstler Banksy nach einer krimitauglichen Recherche als Robin Gunningham aus Bristol enttarnte – da gab es einen Aufschrei in der Szene, die sich ihres kostbarsten Geheimnisses beraubt sah: „Warum habt ihr das getan! Ihr habt etwas ganz Besonderes ruiniert.“ Banksys Graffito eines maskierten Straßenkämpfers, der einen Molotow-Cocktail zu werfen scheint, tatsächlich aber einen Blumenstrauß in der Hand hält, bleibt eine Ikone dieser Kunst des Aufbegehrens und der Subversion. Das Bild prangt riesengroß an einer Hauswand in Bethlehem, wurde als Botschaft des Friedens millionenfach auf T-Shirts und Poster reproduziert – und bleibt doch ein Symbol der Rebellion, der Gestus eines Davids gegen Goliath. Da darf der Urheber einfach keinen bürgerlichen Namen haben. Und zweitens: Es sind viele, die sich mit ausholender Geste auf Brandmauern und Fassaden in die Öffentlichkeit drängen, den barschen Befehlston eines Verbotsschildes neu formulieren oder wie der Amerikaner Dan Witz einen winzigen Kolibri aufs Straßenpflaster malen und dann ganz leise wieder verschwinden. Street Art ist das Gegenteil von elitär. Das ist ihr Anspruch, das ist ihr Programm. Wer eine Spraydose halten kann, einen dicken Filzer, wem die zackigen Schwünge und die Characters der Mangas und Animes vertraut sind, der zieht los. Die meisten müssen sehen, dass die Polizei sie nicht erwischt. Aber manche werden groß.