Filter View All InterviewPlaygroundPersonalitiesTravelOfficesPrime Properties
Allgemeine GeschäftsbedingungenWiderrufsbelehrungE-MagazineGG AbonnementAboutMediadaten

Die Architektur des Lebens by Silke Bender | 6. Dezember 2019 | Offices

Das 20. Jahrhundert gehörte der Physik, das 21. Jahrhundert der Biologie. Meint der Architekt David Benjamin und baut auf Ziegel, die aus Pilzkulturen und Pflanzenabfällen bestehen. Mit seinem multidisziplinären Studio The Living in New York arbeitet er nicht nur an der intelligenten, organischen und lebenswerteren Stadt von morgen, sondern auch an besseren Flugzeugen. Eine Begegnung mit einem grenzenlos denkenden Multitalent.

Im Pariser Centre Pompidou ging im April die Ausstellung „La Fabrique du Vivant“ zu Ende, in der die weltweit innovativsten Positionen in Wissenschaft, Design und Architektur vorgestellt wurden. Im digitalen Zeitalter tritt Gestaltung zunehmend in Interaktion mit den Naturwissenschaften. Die Frage drängt sich auf: Kann das Leben programmiert werden? Und wenn ja, wie? Einer der spannendsten Teilnehmer: der New Yorker Architekt David Benjamin. Der Torbogen, den er aus sogenannten Living Bricks für die Ausstellung baute, besteht nur auf den ersten Blick aus weißen Ziegeln. Tatsächlich sind die Steine lebende Organismen, hergestellt aus geschredderten Maisstängeln und anderen landwirtschaftlichen Abfallprodukten, die mit lebenden Pilz-Myzelien legiert wurden. Dabei setzt ein natürlicher Verschweißungsprozess ein. Die Ziegel wachsen zu einer leichten, aber stabilen Struktur zusammen. Wachstum und Selbstmontage stoppen, wenn die Pilze nicht mehr mit Wasser versorgt werden.

Der Torbogen in Paris war eine Miniaturausgabe des spektakulären „Hy-Fi“-Turms, den Benjamins Büro schon 2014 am MoMA PS1 in New York präsentierte. Die 13 Meter hohe Struktur aus drei Zylindern zierte einen Sommer lang als zentrales Bauwerk den Innenhof des Museums in Queens. „Hy-Fi“ war die erste großformatige Struktur, die diese Pilz-Technologie einsetzte: Die dafür benutzten 10.000 Ziegel konnten in nur fünf Tagen gezüchtet werden. „Damit zeigt sich der Anspruch, den ich mir gesetzt habe: Alles, was wir in Zukunft produzieren, sollte so nachhaltig und wenig belastend wie möglich in den Kreislauf der Natur zurückkehren können“, sagt Benjamin.

Als der 45-jährige sein Studio The Living 2006 gründete, tat er dies mit dem selbstbewussten Vorsatz, „die Architektur von morgen zu schaffen.“ Studiert hatte er an der Columbia University, an der er heute als Professor lehrt. „Ich hatte schon am Anfang meines Studiums die Idee, die Definition von Architektur zu erweitern“, sagt er. „Ich verfolgte einen interaktiven Ansatz und so begann ich, Architektur mit den Augen der Biologie zu sehen und lebende Organismen zum Vorbild zu nehmen. Vielleicht sind Gebäude nicht nur statische Objekte, sondern können auch dynamische, lebendige Systeme sein.“ In Asien etwa implantierte er LED-Fassaden an Gebäuden und LED-Bojen im Wasser, die interaktiv auf Luft- oder Wasserverschmutzung reagieren. Diese interdisziplinäre Herangehensweise war für den multiinteressierten Benjamin ein natürlicher Prozess. Im zehnköpfigen Büro von The Living arbeiten heute Biologen, Architekten, Künstler und IT-Spezialisten Hand in Hand. Wer heute zukunftstauglich sein will, so meint er, muss lernen, disziplinübergreifend zu denken. Gestartet war das Team in einer alten Schiffswerft, der Brooklyn Navy Yard, das heute ein gigantisches Co-Working-Space und Forschungslabor für Robotik und Nanotechnologie ist. Erst letztes Jahr ist The Living nach Downtown Manhattan gezogen. In den ehemaligen Firmensitz der Cunard-Reederei am unteren Broadway. Das Gebäude ist fast 100 Jahre alt, hier sitzen sie im neunten Stock mit Blick auf die Freiheitsstatue. In der „WeWork“-Etage haben sie eine eigene Fläche von rund 140 Quadratmetern.

Der Start-up- und offene Think-Tank-Charakter bleibt: Die innovative und mittlerweile auch kommerziell erfolgreiche Firma verschanzt sich nicht hinter verschlossenen Türen, sondern teilt sich ihr Büro mit 60 anderen Kreativen – die immer wieder auch mal Testpersonen für ihre Prototypen sind. Die Gegend nahe der Wall Street verändert sich gerade: Vom Financial District zum Startup- Viertel. Weil viele Banker und Versicherer in den vergangenen Jahren nach New Jersey gezogen sind, entstehen in den alten Bürogebäuden heute immer mehr Co-Working-Spaces. „Gebäudenutzungen ändern sich im Lauf der Zeit, und eine intelligente Architektur sollte darauf vorbereitet sein“, sagt Benjamin und verweist auf sein neues Projekt, das „Embodied Computation Lab“ auf dem Campus der Princeton University: einfach in der Form, aber anspruchsvoll in der Funktion. Hier arbeiten die Studenten heute an neuen Bau- und Robotertechnologien.

Für die Verkleidung wurden alte Holzplanken aus entsorgten Baugerüsten recycelt. Die Planken wurden zuvor gescannt, ihre Dämmungseigenschaften aufgrund von Astlöchern und Maserungen analysiert und entsprechend verbaut. „Meine Idee war: Das Gebäude soll wie ein Open-Source-Programm funktionieren, auf Hardware übertragen“, sagt Benjamin. „Schließlich werden die Studenten in 20 Jahren darin mit Robotern und Maschinen befasst sein, die wir uns heute noch nicht vorstellen können.“

Sein Büro arbeitet heute nicht nur für visionäre Architektur-, Kunst- und Umweltprojekte, sondern auch für europäische Großunternehmen wie den Flugzeugbauer Airbus, für den The Living mittels computergestützter Designs besonders leichte Bauteile entwickelte, die zu deutlich geringerem Treibstoffverbrauch und CO2-Ausstoß führen. Die sogenannte „Bionic Partition“ – mögliche Trennwände in der Flugzeugkabine – befindet sich derzeit in der Testphase und soll in Zukunft in den A320-Modellen eingesetzt werden. Zeitgleich baut The Living in Hamburg auch ein neues Airbus-Produktionswerk, in dem ab 2020/21 Flugzeugmotoren hergestellt werden sollen.

Auch die Pilz-Ziegel werden ab diesem Winter zum ersten Mal kommerziell eingesetzt: Als „Bio“-Interieur für „The Solstice“, ein neues Farm-to-Table-Restaurant im New Yorker East Village. Und so schließt sich eine „Low Impact“-Wiederverwertungskette, wie David Benjamin sie anstrebt: Sollte sich der Einrichtungsgeschmack in Zukunft ändern, können die Wand- und Dekorationselemente als Kompost dort wieder nützlich werden, wo das Gemüse auf den Tellern herkommt: Auf den Äckern und Feldern der Bauern im Upstate New York.

IssueGG Magazine 01/20
City/CountryNew York City, USA
PhotographyThe Living NY