Vermittler zwischen den Welten by Martin Tschechne | 3. Juni 2022 | Personalities
Mit dem diesjährigen Pritzker-Preis, dem Nobelpreis für Architektur, wurde ein neues Kapitel aufgeschlagen: Ausgezeichnet wurde zum ersten Mal ein Preisträger, der aus Afrika stammt. Diébédo Francis Kéré aus Burkina Faso lebt und arbeitet seit Jahrzehnten in Berlin. Soziales Bauen ist sein Thema, er entwirft nachhaltige Häuser und Siedlungen, in denen die Gemeinschaft zueinander findet und sich entwickeln kann.
Er ist zurückgekommen. Zurück nach Gando, und er konnte es kaum abwarten, dem winzigen Dorf im westafrikanischen Burkina Faso das zu geben, was damals gefehlt hatte. Er war noch ein Kind, gerade sieben Jahre alt, aber er hatte Eltern und Geschwister und seine Heimat verlassen müssen – denn Gando besaß keine Schule. Also gab der Vater seinen Ältesten zu Verwandten in die Stadt. Das Schulhaus dort: eng und stickig, ein Glutofen. Burkina Faso gehört zu den ärmsten Ländern der Welt, Platz 182 von 189 auf dem Entwicklungsindex der Vereinten Nationen.
Im Jahr 2001 aber machte sich Diébédo Francis Kéré, inzwischen Student der Architektur an der Technischen Universität in Berlin, auf den Heimweg. Die Kinder des Dorfes sollten endlich ein Gebäude bekommen, in dem sie Lesen und Schreiben lernen konnten, eine Grundschule – ohne in der sengenden Hitze des Frühjahrs und Herbstes dahinzudämmern, ohne vom strömenden Sommerregen fortgespült zu werden.
Es brauchte gar nicht viel. Drei flache Baukörper aus rotem Ziegel, beschirmt von einem gemeinsamen Blechdach, das sich wie die Tragfläche eines Flugzeuges in den Luftstrom schmiegt und auf dünnen Stahlstützen beinahe zu schweben scheint. Wer mag, erkennt eine Wahlverwandtschaft zu den Bauten eines Ludwig Mies van der Rohe; dessen Neue Nationalgalerie liegt ja nicht allzu weit von den Seminarräumen und Studios der Universität in Berlin entfernt. Nur ist die Schule in Gando luftiger als der Klassiker der internationalen Moderne, sparsamer und deshalb eher zeitgemäß. „Es sind ganz billige Stäbe unter dem Dach“, stellt Kéré klar, „Armierungseisen, die normalerweise im Beton verschwinden, um ihn zu verstärken.“ Und doch lenkt die Konstruktion den Wind; er streicht über die gemauerten Decken und erzeugt in den Klassenzimmern eine geradezu luxuriöse Kühle. Ohne Klimaanlage, ohne Energie aus der Steckdose.
Der Aga-Khan-Preis 2004 also für einen Architekten, der bei der Arbeit an seinem ersten Projekt noch nicht einmal das Abschlussdiplom in der Tasche hatte! „Im Grunde genommen wollte ich Architektur studieren, damit ich weiß, wie man baut“, hat er mal in einem Interview mit der Deutschen Welle gesagt. „Aber ich hatte Glück, dass ich in Berlin so gute Professoren hatte“ – Peter Herrle etwa oder Ingrid Goetz. Sie drängten ihn, das Studium bis zum Abschluss fortzuführen. Später wurde er selbst ein gefragter Lehrer: an der TU in München, in Harvard, Yale und an der Accademia im schweizerischen Mendrisio.
Francis Kéré, geboren 1965, ist ein schlanker und eleganter Mann. Seine Bewegungen sind weich und fließend, seine Gesichtszüge entspannt. Wenn er einen Vortrag hält – und er steht oft auf einem Podium, um von seiner Arbeit zu berichten – überzeugt er seine Zuhörer durch Freundlichkeit und Charme. Dann erzählt er von den Frauen seines Dorfes, die ein paar Münzen für ihn aus den Falten ihrer Kleider nestelten, wenn er sich als kleiner Junge wieder auf den Weg in die Stadt machte. Oder von den sieben oder acht Arbeitern aus Gando, mit denen er auf einem gemauerten Bogen aus Ziegeln in die Luft hüpfte, alle zugleich, um die Festigkeit der fragilen Konstruktion zu demonstrieren. Wie die Kinder. Es gibt ein Foto davon: alle lachen. Seine Zielstrebigkeit und seine Energie lassen sich in solchen Momenten bestenfalls erahnen.
Im März erkannte ihm die Hyatt Foundation in Chicago den Pritzker-Preis zu, so etwas wie den Nobelpreis für kluges und innovatives Bauen und Entwerfen. Damit spielt Kéré in einer Liga mit SANAA und Herzog & de Meuron, mit Sir Norman Foster, Rem Koolhaas und Tadao Ando. „Er weiß beinahe intuitiv“, schreibt die Jury in einer Begründung, in der neben Respekt auch so etwas wie blankes Staunen durchklingt, „dass in der Architektur nicht das Objekt zählt, sondern sein Zweck, nicht das Produkt, sondern der Prozess.“
Die Grundschule jedenfalls war in Gando nur ein Anfang. Es folgten Wohnhäuser für die Lehrer, ein paar Jahre später ein Erweiterungsbau, 2019 eine eigene Bibliothek. Die weiterführende Secondary School ist im Bau. 80 Prozent der Bewohner seines Dorfes seien Analphabeten gewesen, rechnet Francis Kéré vor. Auch der eigene Vater. Mittlerweile sei die Zahl der Schüler von 120 auf 700 angestiegen. Viel kraftvoller lässt sich der Erfolg einer Architektur kaum ausdrücken.
Und alle waren dabei, von Anfang an. Sie hatten die Chance erkannt, die der Heimkehrer ihnen bot. Das nötige Geld hatte er zuvor bei seinen Kommilitonen in Berlin gesammelt, Crowdfunding; auch da brauchte es nicht viel. Und wo die Bewohner von Gando noch zögerten, da überzeugte sie Kéré, der Redner, Sohn des Dorfvorstehers, der Erste, der in die Fremde geschickt worden war, um dort zur Schule zu gehen. In langen Kolonnen schleppten sie den Lehm herbei, Frauen, Männer und Kinder, vermischten ihn mit Zement, brannten ihn zu Ziegeln und stampften den Boden im Rhythmus ihrer Tradition, alle miteinander, mit Holzstempeln und Füßen, strichen ihn glatt und schrubbten ihn mit Steinen, bis er streichzart war wie ein Babypopo.
Kéré, das Hemd locker über der Hose, macht ein paar Tanzschritte: So hätten sie den Boden festgetreten. Es war beinahe ein Volksfest. Die Wahl des Baustoffs lag nahe: Es gibt nichts anderes in der kargen Umgebung von Gando. Nur Lehm und roten Sand. Vielleicht noch das störrische Holz des Eukalyptusbaums. Francis Kéré machte ein Prinzip daraus: Der Ort gibt das Material vor. Bruchstein aus der Umgebung für den Startup Lions Campus (2021) am Turkana-See in Kenia, gegossener Lehm für das Burkina Institute of Technology (2020) in der Stadt Koudougou. Im US-Bundesstaat Montana nutzte er Scheiben von Bäumen, die bei Forstarbeiten liegen gelassen worden waren, Abfallholz also, um es für das Kunstzentrum von Tippet Rise zu einem Pavillon zusammenzufügen. „Xylem“ (2019) ist ein Meditations- und Versammlungsraum, in dessen Struktur der Architekt Vorbilder aus der Kultur der Dogon im westafrikanischen Mali zitiert – der Baustoff war in Sichtweite gewachsen. „Kein gesunder Baum wurde gefällt oder auch nur beschädigt für das Projekt“, stellt er klar. Und zugleich: Entbehrung lehrt nicht nur Pragmatismus. Sie fördert auch den Respekt.
Es ist diese doppelte Botschaft, die Kéré in all seinen Projekten formuliert, ob es um eine Schutzhütte am Einstieg zu einem Wanderweg in den Rocky Mountains geht oder um ein Parlamentsgebäude, in dessen monumentaler Struktur der Baumeister den Menschen seines Landes eine sinnliche Erfahrung von demokratischer Teilhabe vermittelt: unser Parlament, unser Land, unsere Zukunft. Ganz gleich ob die Bauten in Mali oder Mosambik entstehen, in Montana oder Miami, London oder Weil am Rhein, ob sie den Besuchern eines Festivals in Kalifornien vorübergehend Schutz und Schatten bieten oder auf lange Sicht die medizinische Versorgung eines bitterarmen Landes sichern – die Botschaft lautet: Architektur wächst aus der Gemeinschaft und hat ihr zu dienen. Und: Architektur trägt eine hohe Verantwortung für die Balance der Natur, die Nachhaltigkeit von Ressourcen, die Zukunft des Klimas. Allein die Herstellung von Zement verursacht acht Prozent der globalen Emission von Treibhausgasen. Ästhetik folgt aus der Funktion. Und aus Rücksichtnahme. Für einen Architekten aus der ersten Liga ist das eine erstaunlich demütige Haltung – und doch weist der Baumeister genau damit den Weg in die Zukunft seines Gewerbes. Bescheidenheit statt monumentalem Prunk, Gemeinschaft statt triumphaler Geste. Und Verantwortung, wo allzu lange gemeingefährlicher Stolz die Form bestimmte.
Francis Kéré verbringt einen Großteil seiner
Zeit in den hellen Räumen seines Büros
im Berliner Bezirk Kreuzberg, umgeben von
Computerschirmen und Architekturmodellen
aus Pappe. Er trägt die rituellen Narben
im Gesicht, die ihm als Kind in die Haut geritzt
worden waren. 1985 ist er nach Deutschland
gekommen, 20 Jahre alt, zunächst, um
das Tischlerhandwerk zu lernen. Zehn Jahre
später nahm er sein Studium auf, weitere
zehn Jahre darauf, 2005, machte er sich selbstständig.
Genau hier, Arndtstraße 34, Hinterhaus, eine ehemalige Werkstatt. Inzwischen beschäftigt er ein gutes Dutzend Mitarbeiter, und längst hat er neben der Staatsbürgerschaft seines Heimatlandes Burkina Faso auch die deutsche. Er zieht ein Foto hervor. Zu sehen ist eine größere Gruppe, vielleicht 40 oder 50 Menschen unter einem grünen Baum irgendwo in Afrika, weite, farbenfrohe Gewänder, Tücher um den Kopf gewickelt. Viele sind mit dem Fahrrad gekommen. Sie sitzen eng beieinander im langen Schatten des Nachmittags. „Man kommt zusammen“, erläutert er das uralte Prinzip, „setzt sich hin und diskutiert über die Geschicke der Gemeinschaft. So beginnt wahre Demokratie.“
Was für eine Vorlage für die Architektur! Im Grün der Kensington Gardens erhob sich im Sommer 2017 ein solcher Baum, riesengroß, mit einem leuchtenden Schirm aus Stahl und Holz und transparenten Tafeln, der vor Regen schützte, Schatten spendete und Licht durchließ wie richtiges Blattwerk. Und da London nicht in Afrika liegt, fasste der Baumeister diesen temporären Pavillon der Serpentine Gallery mit vier Segmenten einer schützenden Mauer ein, dunkelblau wie eine Nacht in Afrika, aber offen genug, den Versammlungsraum von allen Seiten betreten zu können.
Das Gebäude für die Nationalversammlung in der Hauptstadt Ouagadougou war so ein Projekt, an dem jeder Besucher den eigenen Anteil an der Gemeinschaft erleben sollte. Im „Schwarzen Frühling“ 2014, dem Aufstand des Volkes von Burkina Faso gegen eine korrupte politische Elite, war das alte Gebäude aus der Zeit als französische Kolonie niedergebrannt worden. Francis Kéré nutzte den Moment der Leere, um eine riesige Pyramide zu entwerfen, mit einem Blick weit über das Land, mit begrünten Terrassen, Ausstellungsräumen und Marktständen, zugänglich für jedermann. Mag sein, dass der Plan bislang nur auf dem Papier existiert – der Architekt erkennt in dem Projekt die Chance, in seinem armen und vielfach gedemütigten Land eine neue politische Kultur aufzubauen. „Ich hoffe, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen“, sagt er, „und die Menschen zum Träumen und zum Risiko anzuregen.“ Kéré kämpft.
Vielleicht war es die Zusammenarbeit mit Christoph Schlingensief, in der dieser Diébédo Francis Kéré erkannte, dass selbst sensibelste Rücksicht auf lokale Gegebenheiten und globale Bedrohung ein gewisses Maß an Inszenierung erfordert, um ihr Publikum, ihre Nutzer und die Öffentlichkeit von ihren Absichten zu überzeugen. Bis zu seinem frühen Tod 2010 engagierte sich der Theaterregisseur und Aktionskünstler für das gemeinsame Projekt, rund 30 Kilometer von der Hauptstadt Ouagadougou entfernt ein Operndorf zu bauen, in dem alles allem begegnen kann: bildende Kunst und Gesundheitsvorsorge, Architektur und Alphabetisierung, afrikanischer Film und nachhaltige Landwirtschaft, klassische Oper und der erste Schrei eines neugeborenen Babys.
Das Opernhaus selbst wartet noch auf seine Vollendung, die Häuser und Studios ringsherum sind von Leben erfüllt: ein Kulturzentrum ohne Zentrum, aber ein Ort, an dem so etwas wie Identität entstehen kann, Stolz auf die eigenen Wurzeln, auch für die Nummer 182 auf der Weltrangliste des Wohlstands. „Jeder verdient Qualität“, fordert der Architekt, „jeder verdient Luxus, jeder verdient Komfort.“ Genau deshalb hat er die Decke der Bibliothek in seinem Geburtsort Gando mit Ringen durchbrochen, die vorher aus den Tongefäßen der Dorfbewohner geschnitten worden waren: Die Krüge ohne Deckel und Boden geben ein angenehmes Oberlicht, lassen die Luft zirkulieren – und stellen eine sichtbare Verbindung zum Alltag der Menschen her.
Genau deshalb auch hat er das Lyzeum Schorge in Koudougou wie einen Kral um einen offenen und doch geschützten Versammlungsplatz herum gebaut und das medizinische Versorgungszentrum von Léo angelegt wie ein Dorf aus traditionellen Lehmhäusern. Es geht darum, eine eigene Mitte zu definieren. Und das Parlamentsgebäude, das gerade in Porto-Novo entsteht, der Hauptstadt des benachbarten Staates Benin – es folgt dem Vorbild und hat die Struktur eines riesigen, afrikanischen Palaverbaumes.
Seit 1979 wird der Pritzker-Preis einmal im Jahr an einen herausragenden Architekten, eine Architektin oder auch mal an ein Duo verliehen. Kaum zu glauben, aber Diébédo Francis Kéré ist der erste Afrikaner, dem diese Ehre zuteil wird. Und nicht nur das. Er ist auch der einzige lebende Architekt in Deutschland, der mit diesem Preis ausgezeichnet worden ist.