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Grenzgängerin mit Weitsicht by Steffi Kammerer | 2. September 2022 | Personalities

Sie ist der avantgardistische Star der Wissenschaft. Neri Oxman sucht an der Schnittstelle von Technologie und Biologie nachhaltige Lösungen für die Zukunft. Dabei nutzt sie die Raffinessen der Natur.

Leben und Tod, Natur und Technik,
im Werk von Neri Oxman ist alles mit­ einander verbunden. Die vielseitige Architektin, Designerin und Künstlerin stammt aus Israel und verändert von New York aus die Städte von morgen.

Ameisen, die sich darüber verständigen, wie sie ihre komplexen Tunnel errichten. Die kunstvollen Papiernester, die Wespen bauen. Birkenrinde, die den Baum vor Sonne und Temperaturschwankungen zu schützen vermag. Aus Phänomenen wie diesen zieht Neri Oxman Schlüsse. Vergleicht etwa eine Betonsäule, die überall gleich dicht ist, mit dem Stamm einer Palme, der am Rand eine geringere Dichte hat als in der Mitte. Entwickelt daraufhin einen 3D- Drucker, der Zement variabel gießen kann. Die Natur ist ihr Vorbild, aber Oxman baut nicht nur nach, sondern kombiniert, schafft Neues, überlegt, wie sich das Ganze skalieren lässt.

Ihre Kindheit verbrachte sie zu großen Teilen im Architekturstudio ihrer Eltern in Haifa und im nahe gelegenen Garten der Großmutter. Hier, umgeben von Feigen- und Olivenbäumen, schaute sie als kleines Mädchen den Wolken zu, hier ist ihre tiefe Beziehung zur Natur gewachsen. Beide Eltern sind bekannte Architekturprofessoren, Neri und ihre jüngere Schwester sind mit Designfragen groß geworden. Nach dem Wehrdienst in der israelischen Armee schrieb sie sich zunächst für Medizin ein, nach zwei Jahren wechselte sie zur Architektur. Studierte in Haifa und in London und promovierte am renommierten MIT in Cambridge, bald wurde ihr eine Professur angeboten.

2015 hielt Neri Oxman einen TED-Talk, der bisher von fast 2,8 Millionen im Internet angeschaut wurde. Sie erklärt da, wie die Natur maßgeschneiderte Lösungen anbietet, kein One-for- all: „Schauen Sie sich zum Beispiel unsere Haut an. Die ist im Gesicht dünn mit großen Poren. Am Rücken ist sie dicker und hat kleinere Poren. Im einen Fall agiert sie vor allem als Filter, im anderen als Barriere. Und dennoch ist es die gleiche Haut: keine Einzelteile, kein Zusammenbau.“ Die Natur macht feine Unterschiede und kann variieren, Menschen hingegen lassen genormte Industrieware vom Stapel.

Oxman ist 46 und blickt auf ein Lebenswerk zurück, das schon heute für drei reicht. Es passt so wenig in eine Schublade wie sie, sie ist so vieles gleichzeitig. Erschafft Objekte von einzigartiger Ästhetik oder Roboter, die ganze Häuser drucken können. 2018 erhielt sie den Cooper Hewitt National Design Award für Interaktionsdesign. Jenny Lam – Jury-Mitglied und eine der führenden Designer bei Oracle – sagte, Oxman hätte ebenso für Modedesign oder Produktdesign ausgezeichnet werden können. Sie bezeichnete sie als Leonardo da Vinci der Gegenwart.

Oxman und ihr Team zeigen ihre Projekte regelmäßig auf ganz großer Bühne: etwa im Pariser Centre Pompidou, im Smithsonian Design Museum, vor zwei Jahren im MoMA in New York. Die Einzelausstellung hieß: „Neri Oxman Material Ecology“. Materialökologie – so heißt die Disziplin, die Oxman begründet hat. Sie meint damit die fruchtbare Verbindung zwischen Ökologie und der artifiziellen Welt.

Für die MoMA-Ausstellung hat sie ihre Arbeit mit Seidenraupen weiterentwickelt, die sie seit 2013 verfolgt: Herausgekommen ist ein gigantischer Pavillon, sechs Meter hoch und fünf Meter breit, gesponnen von mehr als 17.000 Raupen, deren Produktivität sie mit Computern und Robotern auf die Sprünge half. Und anders als in der traditionellen Seidenproduktion üblich: Es starb keine einzige Larve. Die Kombination aus Technik und Biologie machte es möglich.

Oxmans gedanklicher Radius ist riesig, alles denkt sie neu und anders: Ihre Vision sind Gebäude, deren Fassade sich den Witterungsverhältnissen oder dem Licht anpassen können; Gebäudeteile, die in der Lage sind, sich selbst zu regenerieren, wie das Zellen im Körper tun, oder aber – die sich nach einer programmierten Frist selbst auflösen, weil sie nicht mehr gebraucht werden.

Schon 2014 schuf sie Wearables mit integrierter lebender Materie. Das Ziel: synthetische biologische Prozesse in Gang zu setzen, die es uns irgendwann möglich machen, auf anderen Planeten zu überleben, etwa durch Verwandlung von Solarenergie in Zucker. Und noch einmal sechs Jahre früher, 2008, hat sie formuliert, welch einzigartige Chance unsere Zeit für sie bietet. Damals sagte sie auf der DLD-Konferenz des Burda-Verlags in München: „Wir gehen im Design in eine neue Epoche.“ Weg vom Seriellen und der Wiederholung des Maschinenzeitalters, hin zu den Möglichkeiten des digitalen Zeitalters: „Jetzt können wir mit Unterschieden und mit Differenzierung arbeiten. Wir können anfangen, Orte und Produkte so zu gestalten, dass sie maßgeschneidert sind. Und dass sie sich kontinuierlich verändern und anpassen.“

Vor vier Jahren geriet Oxman ungewollt ins Rampenlicht der anderen Art, ihr wurde eine Liaison mit Brad Pitt angedichtet. Zu diesem Zeitpunkt war sie längst mit dem Investor und Hedgefonds-Manager Bill Ackman liiert, ihrem heutigen Ehemann. Im Frühling 2019 kam ihre gemeinsame Tochter zur Welt. Und es gab eine weitere entscheidende Veränderung: Nach gut zehn Jahren als Professorin am MIT hat
Neri Oxman in Manhattan ihr eignes Design- und Forschungslabor eröffnet. Stay tuned!

IssueGG Magazine 04/22
City/CountryHamburg, Germany
PhotographyNoah Kalina(1), YoramO Reshef(1)
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